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Study description:
Gegenstand der Datenübersicht ist die Kriminalitätsentwicklung der früheren Deutschen Demokratischen Republik anhand der veröffentlichten Kriminalstatistik. Die Kriminalstatistik gestattet Aussagen über die Kriminalität als Ganzes. Darin sind die Daten zu Straftat und Täter, zur Ermittlung durch die Polizei und zur Strafverfolgung durch die Justiz gebündelt. Sie zeigt die Größenordnung an und ermöglicht den Vergleich über längere Zeiträume. Ziel der Übersicht ist die Darstellung von ausgewählten Daten aus den Primärquellen. Dabei knüpft die Datensammlung an die Publikation von Freiburg an (vgl. Freiburg, A., 1981: Kriminalität in der DDR. Zur Phänomenologie des abweichenden Verhaltens im sozialistischen deutschen Staat. Opladen: Westdeutscher Verlag); die hier ausgewählten Zeitreihen wurden bis zum Jahr 1989 ergänzt. Berücksichtigt wurden die Themen:
1.. Übersichten zur Gesamt-Kriminalitätsentwicklung in der ehemaligen DDR:
- Entwicklung der Kriminalität in der DDR nach den im statistischen Jahrbuch der DDR veröffentlichten Angaben (1946-1989);
- Straftaten, Täter, Verurteilte: DDR-Statistik einschließlich berechneter bzw. geschätzter Werte (1946-1989);
- Von "Maßnahmen strafrechtlicher Verantwortlichkeit" betroffene Personen je 100 000 strafmündiger Einwohner (1950-1983).
2. Strafverfahren:
- Verfahrensabschluss festgestellter Täter (1960-1989);
- Verfahrensabschlüsse je 100 Straftaten (1955-1978);
- Täter, Verurteilte und Übergaben an gesellschaftliche Gerichte je 100.000 strafmündige Einwohner (1950-1989).
3. Deliktstruktur:
- Deliktstruktur nach Straftaten, absolut und in Prozent (1957-1989);
4. Regionale Verteilung der Kriminalität:
- Straftaten je 100.000 Einwohner nach Bezirken (1957-1989);
- Strafmündige Täter, je 100 000 strafmündige Einwohner nach Bezirken (1958-1989);
- Verurteilte je 100.000 strafmündige Einwohner nach Bezirken (1955-1968).
Allerdings ist zu den Daten anzumerken, dass sie kein genaues Bild der tatsächlichen Kriminalität waren. Die Kriminalitätsstatistiken der DDR bezogen sich auf bekannt gewordene Straftaten. Somit bestand bereits ein Unterschied zwischen der tatsächlich begangenen Kriminalität und der in den Statistiken erfassten, obwohl in den 60er Jahren stets versucht wurde, den Eindruck zu erwecken, als stimme die Entwicklung der festgestellten Straftaten mit jener der tatsächlich begangenen Verbrechen überein. Weiterhin ist zu bedenken, dass die Kriminalitätsstatistiken wegen ihrer Bindung an die juristisch definierten Straftatbestände bezüglich der Ursachen von abweichendem bzw. kriminell definiertem Verhalten nur begrenzt aussagefähig sind. Auch ist zu berücksichtigen, dass das Politbüro der SED und die Leiter der Justiz- und Sicherheitsorgane stets darauf bedacht waren, die Entwicklung der Kriminalität in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland mit sinkender Tendenz darzustellen. Damit sollten die angeblichen Erfolge in allen Bereichen der Gesellschaft glaubhaft gemacht und die gegensätzliche Entwicklung zum Kriminalitätsanstieg in den westlichen Ländern demonstriert werden.
Die Kriminalitätsentwicklung ist in der DDR, entgegen anders lautenden Behauptungen, nicht gleichförmig mit der Tendenz zur Abnahme verlaufen. Vielmehr waren die Zahlen der registrierten Kriminalität Schwankungen unterworfen. Diesen Zahlen hinzuzurechnen ist die Kriminalität, die nicht registriert wurde. Es wurde hinsichtlich der bundesdeutschen Kriminalitätszahlen angeführt, dass diese nur bedingt der Realität entsprächen, da das Dunkelfeld bei vielen Delikten sehr hoch sei. Dies ist richtig, galt aber im gleichen Maß auch für die DDR. Die Kriminalitätszahlen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland können aufgrund eines unterschiedlichen Dunkelfeldes und wegen verschiedener Zählmethoden bezüglich der Gesamthäufigkeitszahlen nicht miteinander verglichen werden.
Zur Statistik der DDR ist festzustellen, dass diejenigen Straftaten nicht berücksichtigt wurden, die nach anderen Gesetzen als dem StGB abgeurteilt wurden. So zeichneten sich viele Diebstähle in Geschäften als so genannte Kleindiebstähle mit einem Wert bis zu 50,- Mark aus. Diese Taten tauchten in der Kriminalitätsstatistik nicht auf, zum einen, weil sie als Verfehlungen und nicht als Straftaten behandelt wurden, zum anderen, weil ihre Ahndung in einer eigenen Verordnung festgelegt war. Aber auch innerhalb der nach den Vorschriften des StGB-DDR abzuurteilenden Straftaten gab es bestimmte Schadensgrenzen. Die 1. Durchführungsverordnung zum EGStGB (Verfolgung von Verfehlungen) vom 19.12.1974 setzte die Schadensgrenze auf 50 Mark fest. Die Verfolgung dieser Taten geschah entweder durch die Volkspolizei mit Strafverfügungen (Geldbuße) oder durch die Gesellschaftlichen Gerichte. Sie sind mit Laienrichtern besetzt, wurden von der staatlichen Justiz geschult und beaufsichtigt und waren zuständig für Arbeitsrechtsfragen, einfache Rechtsstreitigkeiten und für die Ahndung der ihnen zur „Beratung und Entscheidung“ übergebenden minder schweren Straftaten. Sie verhängten „erzieherische Maßnahmen“, verurteilten aber nicht. Der Täter erscheint daher auch nicht in der Verurteiltenstatistik. Hätte man diese Taten in die Kriminalitätsstatistik mit aufgenommen, so wären die Häufigkeitszahlen z.B. beim Diebstahl gegen sozialistisches Eigentum erheblich angestiegen. Ebenfalls nicht erfasst wurden von der DDR-Statistik die Staatsschutzdelikte, die Militärstraftaten, der ungesetzliche Grenzübertritt sowie ähnliche Taten. In der Kriminalstatistik tauchten z.B. auch die Fahrraddiebstähle mehr auf. Im Jahre 1982 aber wurden bei der staatlichen Versicherung der DDR 94.777 Fahrradverluste angezeigt. Insgesamt wurden rund 1/6 aller Taten statistisch überhaupt nicht erfasst. Ebenfalls nicht registriert wurden die Taten, die auf Anordnung staatlicher Stellen durch den Staatssicherheitsdienst der DDR begangen wurden. Nach Öffnung der Archive muss von einer kaum zu erfassenden Fülle an Straftaten ausgegangen werden.
Die seit 1946 registrierte Kriminalität in der ehemaligen DDR stellte sich insgesamt folgendermaßen dar:
Die Tabellen zeigen die Entwicklung der Gesamtkriminalität der DDR, soweit sie bekannt war. Es zeichnen sich drei Entwicklungsphasen ab, deren erste etwa den Zeitraum bis zur Gründung der DDR im Jahre 1949 erfasst. Ihre Höhe kann auf die verrohende Wirkung des 2. Weltkrieges, den Werteverlust in Deutschland und die materielle Not zurückgeführt werden. Die zweite Phase umfasst die Zeit des Aufbaus der DDR bis zu ihrer völligen Abgrenzung im Jahre 1961. In diesem Zeitraum sank die Kriminalität bedeutend, jedoch nicht kontinuierlich. Die dritte Phase umfasst die Zeit der Konsolidierung der DDR seit 1961. Der Kriminalitätsanstieg der Jahre 1961 bis 1963 ist in der Tabelle deutlich zu erkennen. Ihm folgte ein Rückgang bis 1968. Dieser Rückgang der Kriminalität scheint sich in den Jahren 1971 bis 1974 jedoch nicht fortgesetzt zu haben. Die Vermutung, dass es in diesen nicht durch Zahlen ausgewiesenen Jahren zu einem Anstieg der Kriminalität kam, wird auf Aussagen des damaligen Generalstaatsanwaltes Streit gestützt. Dieser stellte fest, dass die bisherigen Modelle und Programme für die Bekämpfung und Vorbeugung der Kriminalität die Erwartungen nicht erfüllt hätten. Streit kritisierte diese Modelle als unrealistisch. In den Jahren 1975 bis 1977 sank die Kriminalität erneut, stieg jedoch 1979 stark an. Seit 1981 ist ein erneuter Rückgang zu verzeichnen. Diese dritte Phase zeichnet sich durch einen Rückgang der durch die Gerichte verurteilten Personen aus, während gleichzeitig die Zahl der Verurteilungen durch die Gesellschaftlichen Gerichte bei durchschnittlich 20.000 liegt. 1988 stieg die Kriminalität stark an, während die Zahl der Verurteilungen durch die Gesellschaftlichen Gerichte konstant blieb. Im letzten Jahrbuch der DDR ist ein Rückgang der Verurteiltenzahlen festzustellen, jedoch werden keine Angaben mehr zu den Verurteilungen durch die Gesellschaftlichen Gerichte gemacht. Zu berücksichtigen ist, dass das Jahr 1989 der DDR größte innenpolitische Schwierigkeiten brachte, insbesondere durch die beginnenden Demonstrationen in Leipzig und anderen Großstädten sowie durch Massenfluchten von DDR-Bürgern über Ungarn oder die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik Deutschland. Angesichts der sich abzeichnenden Veränderungen wurden weniger Strafprozesse durchgeführt.
Die Kriminalitätszahlen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland können aufgrund eines unterschiedlichen Dunkelfeldes und wegen verschiedener Zählmethoden bezüglich der Gesamthäufigkeitszahlen nicht miteinander verglichen werden. Ein Vergleich ist jedoch möglich, wenn man die Häufigkeitszahlen bestimmter schwerer Delikte (z.B. Tötungsdelikte oder Raub) heranzieht, bei denen sich die kriminalitätsstatistischen Verzerrungseinflüsse nicht so stark auswirken.
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Source types:
Freiburg, A., 1981: Kriminalität in der DDR. Zur Phänomenologie des abweichenden Verhaltens im sozialistischen deutschen Staat. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Harrland, H., 1961: die Kriminalität in den beiden deutschen Staaten im Jahre 1960, in Neue Justiz (Berlin-Ost), 15, S. 561-566.
Harrland, H., 1965: Entwicklung und Bekämpfung der Kriminalität in der DDR im Spiegel der Statistik, in: Neue Justiz, 19 (Berlin-Ost), S. 401-406 und S. 435-438.
Harrland, H., 1967: Zur Entwicklung der Kriminalität, in: Neue Justiz 21(Berlin-Ost), S. 265-268.
Harrland, H., 1968: Zur Entwicklung der Kriminalität in der DDR, in: Neue Justiz 22 (Berlin-Ost), S. 390-395.
Harrland, H., 1969: Zwanzig Jahre Kampf für die Zurückdrängung der Kriminalität in der DDR, in: Neue Justiz 23 (Berlin-Ost), S. 385-391.
Harrland, H., 1970: Die Kriminalität in der DDR im Jahre 1969, in Neue Justiz 24 (Berlin-Ost), S. 409-415.
Primärquellen:
Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hrsg.), 1956ff: Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, Bde. 1955 – 1989. Berlin (Ost): VEB Deutscher Zentralverlag, später Zentralverlag.
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Annotations:
1. Zur Zählungsweise in der Kriminalstatistik der ehemaligen DDR:
Die Kriminalstatistik der DDR registrierte über Jahrzehnte eine für internationale Verhältnisse erstaunlich gleich bleibend geringe Kriminalitätsrate. So lag die Belastungsziffer pro Jahr durchschnittlich (1950 bis 1987) bei 750 Straftaten pro 100.000 Einwohner. Der Ehrgeiz der SED und der DDR-Regierung lag darin, nachzuweisen, dass die Kriminalitätsbelastung unter sozialistischen Bedingungen gesetzmäßig ständig abnahm. Zentralistische Verwaltungsstrukturen, hohe Polizeipräsenz, ein enges Netz an gesellschaftlichen Sicherheitssystemen, nahezu perfekte Personenkontrollen, ein ausgefeiltes polizeiliches Meldesystem und geschlossene Grenzen führten über Jahre hinweg in der Tat zu einem Rückgang der Kriminalität, selbst wenn statistische Angaben, wie allenthalben üblich, gelegentlich durch ausgeklügelte Zuordnungen verfälscht wurden. Ganze Deliktgruppen der organisierten Kriminalität wie Drogenhandel, Geiselnahme, länderübergreifende Wirtschaftsdelikte usw. fehlten deshalb im Kriminalitätsbild der DDR.
Bestimmte Formen häufig auftretender Delikte mit geringem Schaden, einfachen Begehungsweisen und geringer Tatintensität wie z.B. unberechtigte Kraftfahrzeugnutzung, Hausfriedensbruch, einfacher Diebstahl, Sachbeschädigung, wurden Verfehlungen genannt. Die waren keine Straftaten und blieben daher außerhalb der Kriminalstatistik. Daher sind auch die Verurteiltenziffern nicht direkt mit bundesdeutschen vergleichbar.
Die DDR hatte - erschwerend für den Vergleich - eine von der bundesdeutschen Kriminalstatistik abweichende Zählweise. Ursprünglich hatte die ehemalige DDR eine Kriminalstatistik, wie sie auch in der Bundesrepublik üblich ist. Das änderte sich zu Anfang der 60er Jahre. Seitdem wurden die DDR-Daten nachträglich, d.h. bei Abschluss des Verfahrens, erhoben. Als „Straftat“ zählte nur, was sich tatsächlich als solche erwiesen hat, als „Täter“ nur derjenige, der eine Straftat gestanden hat oder dem sie nachgewiesen werden konnte. Mit den „Straftaten“ und den „Tatverdächtigen“ der bundesdeutschen Statistik sind diese Angaben kaum zu vergleichen. Auch die Verurteiltenziffern sind nicht direkt mit den bundesdeutschen vergleichbar, weil in der ehemaligen DDR ein Teil der Straftäter den „Gesellschaftlichen Gerichten“ übergeben wird. Der Täter erschien deshalb auch nicht in der Verurteiltenstatistik.
Eine zweite Besonderheit ist die „Verfehlungsregelung“ von 1968. Seitdem gelten Diebstähle mit einem Schaden bis zu etwa 50 Mark und andere geringfügige Delikte nicht mehr als „Straftaten“, sondern als „Verfehlungen“. Sie gelangten gar nicht erst vor das Gericht, sondern wurden von der Polizei, den erwähnten Kommissionen oder – bei Ladendiebstahl – gleich im Einzelhandel geahndet, Diebstähle gewöhnlich mit einer Geldbuße in dreifacher Höhe des Schadens.
2. Aufgabe der Gesellschaftlichen Gerichte:
Die Gesellschaftlichen Gerichte hatten eine vom Staat übertragene Aufgabe zu erfüllen. Sie übten nach Artikel 92 der Verfassung der DDR Rechtsprechung aus. (Heusinger, J., 1982: Neues Gesetz über die Gesellschaftlichen Gerichte, in: Neue Justiz, S. 146f.). Ihre Stellung war durch das Gesetz über die Gesellschaftlichen Gerichte vom 11.06.1968 geregelt (GBl. 1968 I, S. 229f; neu gefasst am 25.03.1982 - GBl I, S. 269f). Gesellschaftliche Gerichte waren in Konflikt- und Schiedskommissionen eingeteilt. Sie waren mit Laienrichtern besetzte, wurden von der staatlichen Justiz geschult und beaufsichtigt und waren zuständig für Arbeitsrechtsfragen, sonstige einfache Rechtsstreitigkeiten und für die Ahndung der ihnen zur „Beratung und Entscheidung“ übergebenen minder schweren Straftaten. Während die ersteren hauptsächlich in Betrieben und in staatlichen Einrichtungen bestanden, waren die letzteren in Städten, Gemeinden und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu finden. Die Gesellschaftlichen Gerichte hatten genau zugewiesene Zuständigkeitsbereiche. Ihre Mitglieder sollten nicht nur in Verfahren, die den Gesellschaftlichen Gerichten zugewiesen wurden, tätig sein, sondern Rat suchende Bürgern bei der Klärung rechtlicher Angelegenheiten helfen, Hinweise zur Erfüllung von Rechtspflichten geben und an der Erläuterung von Rechtsvorschriften mitwirken. Als Hauptanliegen stand der Erziehungsgedanke im Vordergrund: sie verhängten „erzieherische Maßnahmen“ wie Verpflichtung zur Wiedergutmachung des Schadens, Geldbuße, Verpflichtung zur Teilnahme am Verkehrsunterricht usw., „verurteilten“ aber nicht. Der Täter erschien daher auch nicht in der Verurteiltenstatistik. Bei den Verfahren handelte es sich um eine form staatlicher Reaktion auf eine Straftat, die zu einer nichtstaatlichen Reaktion des gesellschaftlichen Organs der Rechtpflege gegenüber dem Täter führte.
Die Gesellschaftlichen Gerichte konnten erst tätig werden, wenn an der Schuld des Täters kein Zweifel bestand. Indem sie versuchen wollten, eine gütliche Beilegung des Konflikts zu erreichen und für den Fall, dass dies scheitern sollte, mit differenzierten Erziehungsmaßnahmen auf den Täter einzuwirken, wiesen sie Ähnlichkeiten zu den in westlichen Ländern bekannten Ausgleichs- und Schlichtungsverfahren auf (Schneider, H. J., 1998: Kriminalpolitik an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Berlin/New York: Springer, S. 44ff).
Die praktische Bedeutung der Gesellschaftlichen Gerichte hatte in den letzten beständig zugenommen. 1954 wurden 8.384 Beratungen durchgeführt, 1973 über 50.000, 1977 über 60.000 und 1981 über 65.000. In der DDR bestanden 1975 24.656 Konfliktkommissionen mit 112.204 Mitgliedern, 1982 waren es bereits 26.282 Konfliktkommissionen mit 233.365 Mitgliedern. 1987 gab es in der DDR mehr als 33.000 Gesellschaftliche Gerichte. Etwa 40% aller Straftaten wurden den Gesellschaftlichen Gerichten zur Bearbeitung und Entscheidung übergeben.
(3) Dunkelfeld:
Ein Teil der Straftaten bleibt den Behörden unbekannt und bildet das „Dunkelfeld“ der Kriminalität, nicht jeder angezeigte Fall kann aufgeklärt und der Täter gefunden und zur Verantwortung gezogen werden, nicht jeder ermittelte „Tatverdächtige“ wird auch verurteilt. Das gilt nicht nur für die bundesdeutsche, sondern für jede Kriminalstatistik, auch für die der ehemaligen DDR. Ob es in der DDR Untersuchungen zum Dunkelfeld gab, ist nicht bekannt. Veröffentlichungen zum Bereich der „latenten Kriminalität", so der Begriff der DDR-Kriminologen zur Dunkelfeldforschung, sind nicht erschienen. Unter latenter Kriminalität wurde in der DDR eine tatsächlich begangene, den Justiz- und Sicherheitsbehörden jedoch verborgen gebliebene kriminelle Handlung verstanden. Darunter fielen Taten, die vom Geschädigten gar nicht bemerkt wurden, sowie solche, die zwar bekannt geworden sind, jedoch nicht angezeigt und von den Justiz- und Sicherheitsbehörden nicht verfolgt wurden. Da das politische System der DDR Kriminalität und Sozialismus als völlig gegensätzlich erachtete, fanden kriminologische Untersuchungen im nennenswerten Umfang zum Dunkelfeld nicht statt. Nach einer anderen Darstellung gab es in der DDR überhaupt keine Dunkelfeldforschung.
Früheren Angaben der DDR-Kriminologie zufolge war das Dunkelfeld aufgrund der gesellschaftlichen Unduldsamkeit gegenüber der Kriminalität sehr gering. Wie hoch das Dunkelfeld zu veranschlagen war, wurde nicht ausgeführt. Lediglich in einer Veröffentlichung wurde von einem Dunkelfeld von 10 % der bekannt gewordenen Delikte ausgegangen. Weitere Angaben fehlen jedoch. Für die Bundesrepublik Deutschland gehen Wissenschaftler davon aus, dass im Allgemeinen weniger als 50 %, bei vielen Delikten nicht einmal 10-15 % den Strafverfolgungsbehörden mitgeteilt werden.
Die erste gesamtdeutsche Dunkelfelderhebung, die im Frühherbst 1990 durchgeführt wurde, ergab für die ehemalige DDR bei ausgewählten Alltagsdelikten eine Häufigkeit von etwa zwei Dritteln des Niveaus der Bundesrepublik Deutschland (Kury, H.: 1992: Gesellschaftliche Umwälzung. Freiburg, S. 141-228) Heutige Hochrechnungen der Kriminalstatistik der ehemaligen DDR nach den bundesdeutschen Erfassungskriterien der Polizeilichen Kriminalstatistik haben ergeben, dass vor 1989 die Zahl der bekannt gewordenen Straftaten pro 100.000 Einwohner der DDR ein Drittel bis beinahe die Hälfte des Niveaus der alten Bundesländer ausmachte (Heide, von der, F./Lautsch, E., 1991: Entwicklung er Straftaten und der aufklärungsquote in der DDR von 1985-1989, in: Neue Justiz, S. 11-15; Heide, von der, F./Lautsch, E.1991: Entwicklung und Struktur der Tatverdächtigen in der ehemaligen DDR von 1985-1989, in: Neue Justiz, S. 344-352). Zu diesen vergleichbaren Zahlen ist anzumerken, dass in der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik die Berufs- und Wohnmobilität sehr eingeschränkt war. Aufgrund der politischen Verhältnisse waren die Leitbilder einheitlicher. Die Kinder und Jugendlichen wurden in Organisationen erfasst, so dass eine Subkultur größtenteils verhindert wurde. Durch die Einbindung weiter Bevölkerungsteile in die Arbeit der Gesellschaftlichen Gerichte entstand keine ablehnende Haltung gegenüber der Polizei. All dies ermöglichte eine stärkere informelle und formelle Kontrolle. Die informelle Kontrolle wurde noch zusätzlich durch die geringere Motorisierung begünstigt. Straftaten, die im direkten oder indirekten Zusammenhang mit Kraftwagen standen (z.B. Wegschaffen der Beute in einem Kraftwagen oder PKW-Diebstähle), waren seltener.
Auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse der nachträglichen Dunkelfelduntersuchungen bleibt festzuhalten, dass die vergleichbaren Zahlen in der DDR niedriger lagen als in der Bundesrepublik Deutschland.
(4) Kriminalstatistik und spezielle Probleme der Bewertung von Daten aus der DDR:
(Zitat aus: Freiburg, A., 1981: Kriminalität in der DDR. Zur Phänomenologie des abweichenden Verhaltens im sozialistischen deutschen Staat. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 24 – 29).
„Nach Sack (1969, 999f) nimmt „die Kriminologie 95 Prozent ihrer wissenschaft¬lichen Erklärungen" an kriminalstatistischen Daten vor, obwohl „die Gültigkeit und Zuverlässigkeit der Kriminalstatistiken - und darüber hinaus auch anderer offizieller Informationen über abweichende Phänomene - alles andere als geklärt" ist (vgl. im einzelnen Kerner 1973; Heinz 1977a; 1977b). Diese Diskussion soll hier nicht ausgebreitet werden, muß jedoch in einer Arbeit mit dem Ziel einer möglichst lückenlosen Erfassung kriminalstatistischer Daten zumindest angesprochen werden.
Die Problematik von Kriminalstatistiken läßt sich in der Frage zusammenfas¬sen, in welchem Maße, ja ob überhaupt, die Statistik ein zuverlässiger Indikator der Kriminalität sei. Mit Sicherheit wird nicht die Gesamtheit krimineller Hand¬lungen erfaßt. Ein (größerer?) Teil wird nicht registriert und bleibt im sog. „Dunkelfeld". Dieses glaubte man für lange Zeit vernachlässigen zu können, da man ein konstantes Verhältnis zwischen „gesamter" und registrierter Kri¬minalität annahm. In der DDR gilt die Dunkelfeldproblematik als unbeachtlich, weil nach dortiger Auffassung die Vervollkommnung der sozialistischen Gesell¬schaftsverhältnisse und der Kriminaltechnik „zur permanenten Verminderung des unbekannten Teiles der Kriminalität" und schließlich zur Angleichung der statisti¬schen Werte an die insgesamt vorkommende Delinquenz führen würde (Harrland et al. 1968, 28). Die westliche Kriminologie sieht die Frage des Dunkelfeldes nicht so unproblematisch (vgl. Kaiser 1977, 17-44). Die Untersuchungen zu diesem und zum Thema „Sozialkontrolle" ergaben nach Heinz (1977b, 50-53), daß Umfang und Struktur der registrierten Kriminalität abhängen vom Anzeigeverhalten der Be¬völkerung, vom Miteinander oder Gegeneinander der verschiedenen Systeme for¬meller und informeller sozialer Kontrolle (z.B. „interne Regelung" statt strafrechtlicher), von der Schwere der Delikte (schwere Kriminalität wird eher bekannt und deshalb von der Statistik zutreffender wiedergegeben als Bagatellkriminalität) und vom Selektionsprozeß innerhalb des Systems strafrechtlicher Kontrolle. Zwischen Delikt und Verurteilung liegen die „Filter" Anzeige, Tatermittlung, Täterermittlung und justizförmige Behandlung von Tat und Täter. Auf jeder dieser Stufen wird sele¬giert, so daß z.B. 1976 in der Bundesrepublik Deutschland den 3 Millionen regi¬strierten Delikten bzw. den 1,1 Millionen ermittelten Tatverdächtigen nur 388 767 Verurteilte gegenüberstanden (ohne Verkehrskriminalität. Stat. Jahrb. f.d. BRD 1978, 326 u. 3 30). Die kriminologische Forschung wird sich daher zunehmend mit der Frage des „Zustandekommens" kriminalstatistischer Daten beschäftigen müssen (vgl. Sack 1969, 998-1002; Heinz 1977b, 52). Somit bildet die Kriminalstatistik nicht eine „autonome Verbrechensrealität" ab, sondern die Konstruktion von „Realität" durch Gesetz, Bevölkerung, Polizei und Justiz. So gesehen sind kriminal¬statistische Daten, wie sie in dieser Arbeit ausgebreitet werden, durchaus nicht ohne Aussagekraft. Sie geben vielmehr an, was tatsächlich jeweils als „Kriminalität" erfaßt und behandelt wurde.
Ein weiteres Problem der Kriminalstatistiken ist die Zählweise und der daraus resultierende Mangel an Kompatibilität der Ausweisungen. Wünschenswert wäre, daß eine Zahl aus der anderen hervorginge, so daß der Weg von der Registrierung der Straftat bis zur Entscheidung über den Täter zu verfolgen wäre. In der DDR versuchte man mit der Statistikreform der Jahre 1960/1964 zu einer solchen „Verlaufsstatistik" zu gelangen. Der Versuch ist jedoch gescheitert (Heinz 1977b, 71f, 75-77 u. 83). Das Problem besteht darin, daß teils Taten, teils Personen ge¬zählt werden, zudem von unterschiedlichen Instanzen teils auf der Basis polizei¬licher Ermittlungen, teils auf der von Gerichtsverfahren. Täter können mehrere Delikte begehen, Delikte von mehreren Tätern gemeinsam begangen werden, die polizeiliche Einordnung der Delikte entspricht nicht stets der Beurteilung durch die Justiz. Der Zeitfaktor kommt hinzu. Die Täter eines Jahres sind nicht stets auch die Abgeurteilten dieses Zeitraums. Auch die „Vereinheitlichung" der Krimi¬nalstatistik in der DDR konnte diese Fragen nur zum Teil lösen (vgl. Heinz 1977b).
In der systemübergreifenden, interkulturellen Kriminalitätsanalyse vervielfachen sich die Probleme der Wertung kriminalstatistischer Daten. Strafrecht und Statistik, die Systeme formeller und informeller Kontrolle, unterscheiden sich von Staat zu Staat beträchtlich. Gilt die Analyse größeren Zeiträumen, so sind die zwischenzeit¬lichen Änderungen zusätzlich zu berücksichtigen. Aus diesen Gründen sind die von den Vereinten Nationen betriebenen Versuche eines exakten internationalen Kriminalitätsvergleichs gescheitert (Sack 1969, 1021). Auch in der DDR-Literatur wird eingeräumt: „Unseres Wissens gibt es derzeit nicht in allen Ländern einheitliche Kriterien für die Bestimmung und Abgrenzung der Erfassungseinheiten der Kriminalität. Vergleiche mit anderen Staa¬ten setzen deshalb jeweils eine sorgfältige Prüfung voraus, inwieweit eine Gegenüberstellung möglich oder zumindest vertretbar ist" (Harrland et al. 1968, 48). Diese Einsicht hat allerdings DDR-Autoren bis zum heutigen Tage nicht gehindert, Kriminalitätsziffern aus beiden deutschen Staaten ohne Hinweis auf die Vergleichsproblematik gegenüberzustellen. Von den z.T. erheblich von den westdeutschen Ge¬gebenheiten abweichenden rechtlichen und statistischen Regelungen in der DDR sind vor allem die folgenden zu beachten:
Generell die Strafrechtsnovellierungen vom 11.12.1957 (GBI. 1 S. 643); 12.1. 1968 (GBI. 1 S. 1); 19.12.1974 (GBI. I S. 591); 7.4.1977 (GB1. I S. 100) und vom 28.6.1979 (GBI. 1 S. 139). Speziell:
- Die Vereinheitlichung der Kriminalstatistik von 1960/1964:
Bis zum 1.1.1960 wurde die Statistik der DDR zweigeteilt geführt ähnlich der westdeutschen, und zwar einerseits von Polizei bzw. Staatssicherheitsdienst und Staatsanwaltschaft, andererseits von der Justiz. Seitdem (für die Straftaten seit dem 1.1.1964) gibt es eine „einheitliche Kriminalstatistik", die vom Generalstaatsanwalt der DDR geführt wird. Damit trat an die Stelle der polizeilichen „Ausgangsstatistik" für „Tat" und „Täter" mit ihren unvermeidlichen Irrtümern und Überquoten (die Polizeiliche Kriminalstatistik der Bundesrepublik enthält gegenwärtig eine Über¬quote an „Tatverdächtigen" von 20 bis 25 Prozent, Bundeskriminalamt 1977, 6; Heinz 1977b, 66) eine „Erledigungsstatistik", deren Daten nachträglich „einheitlich zum Zeitpunkt des endgültigen Verfahrensabschlusses" ermittelt werden (vgl. Stat. Jahrb. d. DDR 1966, 575; 1969, 479; 1978, 377, jeweils „Vorbemerkung"). Daß dieser neue Ausweisungsmodus eine Reduzierung der Kriminalitätsziffern mit sich bringen mußte, liegt auf der Hand, wird jedoch in der DDR-Literatur bestritten (Harrland 1965, 401). Jedenfalls handelt es sich bei den von der DDR-Statistik seit dem 1.1.1964 ausgewiesenen „Straftaten", erfaßt „bei endgültigem Verfahrensab¬schluß", um eine Kategorie notwendig geringerer Größenordnung als die der poli¬zeilich registrierten „Fälle" der westdeutschen Statistik. Auch die Kategorie „Tä¬ter" der DDR-Statistik entspricht keineswegs den westdeutschen „Tatverdächti¬gen". Handelt es sich bei diesen um Personen, gegen die polizeilich ermittelt wird, so zählt die DDR-Statistik als „Täter" jene Gruppe, der „bei endgültigem Verfah¬rensabschluß" eine Straftat nachgewiesen wurde. Formal entspricht diese Katego¬rie am ehesten der westdeutschen Ausweisung „Abgeurteilte - abzüglich Frei¬sprüche". Die Zahl der „Täter" ist in der DDR-Statistik in der Zahl der „Beschul¬digten" enthalten und machte in den sechziger Jahren etwa 80 Prozent der Be¬schuldigtenzahl aus (s. Tab. 8). Dagegen übersteigt in der westdeutschen Statistik die Zahl der „Tatverdächtigen" (früher „Täter") die der „Abgeurteilten" bei wei¬tem. So standen 1970 954 600 ermittelten strafmündigen „Tätern" nur 400 017 „Abgeurteilte" gegenüber (ohne Verkehrskriminalität, Stat. Jahrb. f.d. BRD 1972, 103 u. 105). Auf alle Fälle basieren die Kriminalitätsziffern der DDR-Statistik seit 1960/1964 auf einem grundlegend anderen Ausweisungsmodus als zuvor und als in der Bundesrepublik üblich. Dieser Sachverhalt wird allerdings in DDR-Veröffent¬lichungen zur Kriminalitätsentwicklung und zum deutsch-deutschen Kriminalitäts¬vergleich meistens verschwiegen.
- Die Einführung der gesellschaftlichen Gerichte:
Bereits in den fünfziger Jahren wurden in den Volkseigenen Betrieben der DDR nach sowjetischem Vorbild sog. „Konfliktkommissionen" eingerichtet, zuständig zunächst für Arbeitsstreitigkeiten im Betrieb. Seit 1959 wurden diesen Gremien auch minder schwere Straftaten zur Beratung und Ahndung zugewiesen. Den be¬trieblichen „Konfliktkommissionen" traten seit 1964 sog. „Schiedskommissionen" im städtischen Wohnbereich und in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossen¬schaften zur Seite. Zusammenfassend „gesellschaftliche Gerichte" genannt, bilden diese (1978) etwa 30 000 Kommissionen seit 1968 eine der staatlichen Justiz vor¬geschaltete „unterste Instanz" für minder schwere Fälle des Zivil-, Arbeits- und Strafrechts (vgl. im einzelnen Pleyer/Lieser 1968; Freiburg 1970b; Materialien 1972, Tz 606f; Metzger-Pregizer 1974). 1961 wurden bereits 8,8 Prozent aller er¬mittelten Täter den gesellschaftlichen Gerichten übergeben, 1967 33,9 Prozent, 1977 waren es 26,9 Prozent (s. Tab. 9). Von Bedeutung ist, daß die „Übergaben an gesellschaftliche Gerichte" einerseits (neben der Verurteilung) ausdrücklich zu den „Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit" zählen (also weder Freispruch noch Verfahrenseinstellung oder „Absehen von Bestrafung" bedeuten), daß aber andererseits die gesellschaftlichen Gerichte nicht „verurteilen", sondern „entscheiden", so daß die ihnen zur Beratung übergebenen Personen nicht als Ver¬urteilte in der Statistik ausgewiesen werden. Diese Regelung entlastet die Verurteil¬tenstatistik beträchtlich, im langjährigen Mittel um mehr als ein Viertel. Sie erklärt auch den überproportional starken Rückgang der Verurteiltenzahlen in den sech¬ziger Jahren.
- die Verfehlungsregelung des Jahres 1968:
Seit der Reform des Jahres 1968 unterscheidet das Strafrecht der DDR zwischen „Verbrechen", „Vergehen" und „Verfehlungen". Letztere gelten nicht als Strafta¬ten und fallen unter die Zuständigkeit der gesellschaftlichen Gerichte oder der Poli¬zei. Vor allem geringfügige Eigentumsdelikte fallen unter diese Regelung. Sie dürfte die Kriminalstatistik in beträchtlichem Maße entlastet haben, wie auch in der DDR¬Literatur eingeräumt wurde (Harrland 1969, 389). Anders als zur Zahl der „Täter", die den gesellschaftlichen Gerichten zur Entscheidung über „Straftaten" übergeben wurden, werden Angaben zur Zahl der Entscheidung über „Verfehlungen" nicht gemacht. Schätzungsweise wurde ein Sechstel der Delinquenz von der Verfehlungs¬regelung betroffen (Freiburg 1975a, 492; Heinz 1977b, 78). Der - anscheinend auch in der DDR zunehmende - Ladendiebstahl wird seit 1975, sofern der Schaden 50 M nicht übersteigt, unmittelbar vom Filialleiter oder dessen Beauftragtem ge¬ahndet. Polizei, gesellschaftliche Gerichte und staatliche Justiz sind nur noch in besonderen Fällen mit dem Ladendiebstahl befaßt (vgl. 1. DV z. EStGB - Verfol¬gung von Verfehlungen - vom 19.12.1974 (GB1. I 1975 S. 128); Freiburg 1976a; Schroeder 1977a). In den DDR-Publikationen der siebziger Jahre zur Entwicklung der Kriminalität vermißt man freilich den Hinweis auf die Entlastungsfunktion der Verfehlungsregelung von 1968/74, und ebenso auf die der „Übergaben an die gesellschaftlichen Gerichte".
- Ein Problem schaffen schließlich die Lücken der DDR-Statistik. Die Systematik der kriminalstatistischen Berichterstattung ist weit undifferenzierter als etwa in der Bundesrepublik. Die Ausweisungen für 1946 bis 1956 und 1971 bis 1974 sind mehr als lückenhaft. Eine Reihe von Angaben fehlt gänzlich, so zur Aufklärungsquote, zu bestimmten Deliktgruppen und zur Variation der Kriminalität nach dem Lebens¬alter, dem Geschlecht (außer für 1958 und 1959) und der Ortsgröße. Ob die poli¬tische Kriminalität, soweit sie unter die Zuständigkeit des Staatssicherheitsdienstes fällt, in den Angaben zur Gesamtkriminalität enthalten ist, ist strittig. Allgemein wird angenommen, daß die Staatsschutzdelikte in den ausgewiesenen Gesamtziffern enthalten sind (so A bis Z 1969, 352). Heinz (1977b, 74) weist jedoch darauf hin, daß sich die veröffentlichten Daten zu Delikten und Tätern bis 1963 auf die Stati¬stik der Kriminalpolizei stützten. Diesem statistischen Erfassungsmodus entspre¬chend könnte die vom Staatssicherheitsdienst und vom Zollfahndungsdienst bear¬beitete Delinquenz in den Gesamtzahlen zu Tat und Täter jedenfalls bis zum 1.1.1964 nicht enthalten sein. Heinz räumt freilich ein: „Eine eindeutige Aussage hierzu ist den veröffentlichten Materialien nicht zu entnehmen". Nach Hellmer (1972, 646) ist ferner offen, „ob und inwieweit auch Straftaten von Militärperso¬nen in der Statistik enthalten sind". Dies sei jedoch „ohne Belang; denn auch in der BRD dringt nur ein kleiner Teil der Straftaten von Bundeswehrangehörigen nach außen" - eine Auffassung, der man sich schwerlich wird anschließen kön¬nen. Nach Heinz (1977b, 72) ist die Frage der Ausweisung von Militärstraftaten „nicht eindeutig zu entscheiden; die Frage dürfte jedoch zu verneinen sein".
- Damit ist das Problem der Zuverlässigkeit der DDR-Statistik überhaupt ange¬sprochen. Angesichts des von den DDR-Behörden betriebenen Verwirrspiels und des Stellenwertes, den Wissenschaft und Propaganda der DDR der Kriminalitäts¬entwicklung insbesondere in Konkurrenz zur Bundesrepublik beimessen, wurde die Kriminalstatistik der DDR in der Bundesrepublik stets mit Mißtrauen betrach¬tet. So hieß es 1966:
„Die recht spärlichen Angaben der Kriminalstatistik müssen mit allen Vorbehalten aufgenom¬men werden, die grundsätzlich gegenüber Ergebnissen sowjetzonaler Statistiken angebracht sind. Die Zahlen sollen nicht objektiv informieren, sondern die These der SED beweisen, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung dem kapitalistischen Staatswesen überlegen ist". Es gebe „Anzeichen dafür, daß diese Statistik nicht den wirklichen Stand der Kriminalität in der SBZ wiedergibt" (SBZ von A-Z 1966, 262f).
1969 hieß es zur Kriminalstatistik der DDR, dass „die drüben veröffentlichten Zahlen viele Widersprüche und Lücken enthalten, die zu erheb¬lichen Zweifeln Anlaß geben" (A bis Z 1969, 352).
Auch Brunner (1975, 178) kritisierte „die zweifelhafte Zuverlässigkeit der Krimi¬nalstatistik in der DDR". Schmidt (1975, 238f) sprach in diesem Zusammenhang von einer allgemeinen „Mißachtung des Legalitätsprinzips durch die Strafverfolgungsorgane der DDR . . . Der offiziell geförderte Wettbewerb um eine möglichst geringe Kriminalitätsbelastung im eigenen Bezirk verführt vermutlich auch heute noch sehr leicht zu solchen ungesetzlichen Manipulationen. Er¬hebliche Vorbehalte gegenüber entsprechenden Erfolgsmeldungen wie auch gegenüber der amt¬lichen Kriminalstatistik sind deshalb keineswegs unbegründet". Das letzte Zitat weist auf das Problem des Ermessensspielraums der Polizei im „un¬teren Grenzbereich" der Kriminalität hin, das in der DDR gern. der Regelung des § 8 StEG in den Jahren 1958 bis 1961 tatsächlich von quantitativer Bedeutung ge¬wesen sein dürfte (vgl. Heinz 1977b, 73, Anm. 127). Im. Prinzip stellt sich dieses Problem in allen Staaten.
Folgte man der Meinung, die Kriminalstatistik der DDR sei von Grund auf unzu¬verlässig und wenig mehr als ein Instrument der Propaganda, so wären quantitative Aussagen zur Kriminalität im anderen deutschen Staat nicht möglich. Hier wird die Auffassung vertreten, daß es bei Berücksichtigung der DDR-spezifischen rechtlichen und kriminalstatistischen Regelungen sehr wohl möglich ist, einen Großteil der strit¬tigen Fragen zu klären, einen Teil der Lücken der DDR-Statistik zu schließen und - zumindest überschlägig - ein angemessenes Bild der DDR-Kriminalität zu zeich¬nen. Einige Fragen müssen freilich offen bleiben. „Unbequeme" Daten bleiben in der DDR nach aller Erfahrung unveröffentlicht, „frisiert" werden sie nicht. Aller¬dings werden sie im Hinblick auf ihren propagandistischen Wert „optisch günstig" aufbereitet. Dergleichen zu entschlüsseln, gehört zu den Absichten dieser Arbeit“.