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Studien Zeitreihen |
ZA 8230 | Geld | Tilly, Richard H., Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland von 1870 bis 1913 |
94 Zeitreihen (1815 - 1913) 14 Tabellen |
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Bibliographische Angaben
Studiennummer: ZA 8230
Studientitel: Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland von 1870 bis 1913
Erhebungs- bzw. Untersuchungszeitraum: 1815 - 1913
Primärforscher: Tilly, Richard H.
Veröffentlichung (gedruckte Veröffentlichung): Tilly, R.H., 1973: Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland, 1870 bis 1913, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 187, Heft 4, S. 330-363.
Empfohlene Zitation (Datensatz):
Tilly, Richard H., (1973 [2006]) Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland von 1870 bis 1913
Daten entnommen aus:
GESIS Datenarchiv, Köln. histat.
Studiennummer 8230
Datenfile Version 1.0.0
Studientitel: Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland von 1870 bis 1913
Erhebungs- bzw. Untersuchungszeitraum: 1815 - 1913
Primärforscher: Tilly, Richard H.
Veröffentlichung (gedruckte Veröffentlichung): Tilly, R.H., 1973: Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland, 1870 bis 1913, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 187, Heft 4, S. 330-363.
Empfohlene Zitation (Datensatz):
Tilly, Richard H., (1973 [2006]) Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland von 1870 bis 1913
Daten entnommen aus:
GESIS Datenarchiv, Köln. histat.
Studiennummer 8230
Datenfile Version 1.0.0
Inhalt der Studie
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Studienbeschreibung:
In der vorliegenden Untersuchung stellt Richard H. Tilly Datenmaterial zur gesamten geldwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands zusammen. Dabei handelt es sich um eine Fragestellung, die die Einheitlichkeit geld- und güterwirtschaftlicher Aspekte des Wirtschaftswachstums unterstreichen soll. Der vorgestellte Taxonomie des Geldumlaufs ist nicht als Versuch zu verstehen, in einer einzigen Variablen - wie die Geldmenge - eine neue und bessere Erklärung des deutschen Industrialisierungsverlaufs zu sehen, sondern als Versuch, den Anfang einer systematischen Beschreibung des monetären Sektors zu machen, damit dieser Sektor systematischer als bisher in Beziehung zum realökonomischen Geschehen gesetzt werden kann.
Seine Angaben fußen im Wesentlichen auf Modifikationen der Angaben bei W. G. Hoffmann (Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin/Heidelberg/New York., 1965). Zu diesem Zweck stützt sich Tilly auf ein von Friedman und Schwartz in ihrem bedeutenden geldgeschichtlichen Werk entwickelten Klassifikationsschema (Friedmann, M./Schwartz, A., 1963: A Monetary History of the United States. Princeton, N.J., besonders Appendix B, S. 776-808). Der hier zugrunde gelegte Aufsatz von Tilly bringt neue jährliche Schätzungen des Geldumlaufs in Deutschland, 1870 – 1913. Dem Klassifikationsschema von Friedman und Schwartz folgend, werden einzelne Komponenten des Gesamtgeldumlaufs (M) geschätzt und zueinander in Beziehung gesetzt: Metallgeldreserven der Banken, Bankeinlagen der Nichtbanken, Bestände der Nichtbanken an Noten der Zentralnotenbank usw. Nach der Diskussion der geschätzten Daten werden diese analysiert. Ein Vergleich zur Entwicklung in den USA, 1870-1913, zeigt interessante Parallelen und Differenzen. Die große Bedeutung der Edelmetallbewegungen für den Gesamtgeldumlauf in beiden Ländern wird deutlich.
Gegenstand des 1973 publizierten Aufsatzes von Tilly sind die Ergebnisse dieser Klassifikation bzw. Reklassifikation deutscher geldhistorischer Daten. „Der Versuch, die Heterogenität des deutschen Geldsystems 1870 – 1913 in die Zwangsjacke einer auf amerikanische geldpolitische Verhältnisse zugeschnittene Taxonomie hineinzupressen, identifiziert nicht nur eine Reihe von interessanten Aspekten und Eigentümlichkeiten des deutschen monetären Systems, die sonst nicht in dieser Klarheit erkannt werden könnten, sondern auch das Vorhandensein mehrerer bedeutender Datenlücken, deren Schließung wir jetzt als eine Voraussetzung signifikanter Aussagen über die Geld- und Bankpolitik des Kaiserreichs ansehen müssen“ (Tilly, R.H., 1973: Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland, 1870 bis 1913, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 187, Heft 4, S. 330). Die zweidimensionale Klassifikation nach Friedman/Schwartz teilt die Gesamtzirkulation der Geldmenge zunächst auf
- nach Besitzern:
Nicht-Notenbanken: N;
Banken: B;
Zentralnotenbank: S
und nach
- konkreten Geldformen:
Metallgeld: S;
Banknoten: N;
Staatspapiergeld: U;
Staatsbuchgeld: F;
Bankeinlagen: D;
Zusammen (ohne Differenzierung nach Besitzern): S’; N’, U’, F’ und D’;
Gesamt: M = Geldmenge; R = Reserven.
Hiernach entspricht also S(N) dem Wert des jeweils im Besitz der Nicht-Bank-Wirtschaftssubjekten befindlichen Metallgeldes, N(B) dem Wert der von den Banken jeweils gehaltenen Banknoten etc. „Die Bedeutung einer Differenzierung der Gesamtzirkulation nach Metallgeld, Banknoten, Bankeinlagen etc. für eine historische Untersuchung ist offensichtlich und bedarf keiner weiteren Diskussion. Problematisch oder kontrovers können in diesem Zusammenhang nur der Grad der Differenzierung und der Inhalt der benutzten Kategorien sein. Anders liegt die Unterscheidung nach ‚Besitzern; sie gründet in der vielleicht nicht so offensichtlichen Rollenzuteilung unter den Staat, die Banken und den Nichtbank-Wirtschaftssubjekten als ‚Geldproduzenten’… Der Staat (oder die Zentralbank) tritt als Produzent der Bankreserven und Bargeldbestände der Nichtbanken auf; die Banken als Produzenten des Bankgeldes und Nachfrager nach Bargeld; die Nichtbanken als ausschließliche Abnehmer des Bankgeldes und (mit den Banken) konkurrierende Nachfrager nach Bargeld“ (Tilly, a.a.O., S. 331).
Für das Geldangebot verwenden Friedman/Schwartz eine Identitätsgleichung, in der die Geldmenge M von drei unmittelbaren Determinanten bedingt ist: das Basisgeld (H) („high-powered money“), das vom Staat in Umlauf gesetzt wird; der Reservequotient („deposit/reserve ratio“), also die vom Bankensystem regulierte Relation zwischen Bankreserven und Bankgeld und der Bargeldquotient („deposit/cash ratio“), also die vom Verhalten der Nichtbank-Wirtschaftssubjekte bestimmte Relation zwischen Bargeld und Bargeldbeständen im Nichtbankensystem:
M = H * [ (D/R*(1+D/C) ] / [ D/R + D/C ] .
„Die Gleichung für die Geldmenge (M) ist ein Instrument zur Beschreibung der Bewegungen der Gesamtgeldmenge, die sich aus der Interaktion der Geldnachfrage und des Geldangebots jeweils ergeben. Folgende Größen sind definiert:
“C“ ist die Wertsumme der jeweils im Besitz des Nichtbankensektors (N) befindlichen Münzen, Banknoten, Reichskassenscheine und Giroguthaben bei der Reichsbank bzw. den Notenbanken (C = S(N) + N(N) + U(N) + F(N), mit N = Nichtbanken);
„R“ entspricht den Reserven der nichtstaatlichen Banken: ihre Bestände an Metallgeld, Banknoten, Reichskassenscheine und Giroguthaben bei der Reichsbank (R = S(B) + N(B) + U(B) + F(B), mit B = Banken);
„H“ ist die Summe von „C“ und „R“, also das „Supergeld“ (bei Friedmann/Schwartz: „high-powered money“), das vom Staat (hier: Notenbanken und Münzanstalten) in Umlauf gesetzt wird (H = R + C);
„D“ entspricht schließlich den Sicht- und Termineinlagen der Nichtbanken bei den nichtstaatlichen Banken (D = D(N), mit N = Nichtbanken).
„M“ ist gleich der Gesamtgeldmenge (M = D + C).
Die Gesamtgeldmenge „M“ wird hiernach jeweils durch die Höhe des vom Staat ‚produzierten’ Bargeldes „H“, von dem Verhalten der Banken bzw. von der vom Bankensystem regulierten Relation zwischen Bankreserven und Bankgeld (D/R) und vom Verhalten der Nichtbank-Wirtschaftssubjekte bzw. von der Relation zwischen Bankgeld und Bargeldbeständen im Nichtbankensektor (D/C) bestimmt.
Wie die Gleichung (M = D(N) + C) impliziert, ist die relevante Geldmenge „M“ das Geld im Besitz des Nichtbankensektors (N), da hier nahezu die ganze wirtschaftliche Produktion und Vermögensbildung konzentriert ist, und schließlich diese durch eine Geldanalyse erklärt werden soll. Das bedeutet, dass die Schulden und Guthaben der Banken (ohne Notenemissionsrecht) untereinander durch Saldierung aus der Betrachtung eliminiert werden, ferner dass die Guthaben staatlicher Organe ebenfalls nicht erscheinen, da sie (in unbekannter Höhe) undifferenziert unter den Guthaben der Nichtbanken behandelt werden … Bemerkenswert an diesem Schema ist vor allem dessen Hervorhebung des Unterschiedes zwischen staatlichem „Supergeld“ und privatem Bankgeld: es impliziert doch staatliche geldpolitische Steuerungsmöglichkeiten, die sehr wirksam sein können und die sich sehr leicht überprüfen lassen …
Unsere Aufgabe ist die Erstellung von Langzeitreihen der Variablen „C“, „R“ und „D“, d.h. jährliche Angaben für diese Variablen müssen aus den vorhandenen und noch zu schätzenden jährlichen Daten für S(N), S(B), S(N) etc. abgeleitet werden. Aus empirischen sowie analytischen Gründen müssen dabei vereinfachende Annahmen gemacht und von den Dutzenden von möglichen Schätzungswegen eine Auswahl getroffen werden. Wir präsentieren hier zwei Hauptversionen mit einigen kleineren Variationen“ (Tilly, a.a.O., S. 331f).
Die Tabellen 5 und 6 und (ergänzend) 9 fassen die Ergebnisse der Schätzungen zusammen: M(1), Geldmenge im engeren Sinne; M(2), Geldmenge im weiteren Sinne und M(3), Geldmenge aus der Version III.
- Die Tabelle 5 enthält eine Zeitreihe, die ‚Bankgeld’ (oder „D“) den Konto-Korrentverbindlichkeiten der Kreditaktienbanken und den Privatbankiers gleichsetzt. Das bedeutet, dass die Einklagen der Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Hypothekenbanken und der öffentlich-rechtlichen Bodenkreditinstituten ausgeschlossen werden, ferner dass diese Institutionen überhaupt als Teil des „Nichtbanken-Sektors“ behandelt werden. Infolgedessen werden ihre Bestände an Bar- und Bankgeld zu den Beständen der Nichtbanken gezählt (als Teil von „C“ und „D“).
- In Tabelle 6 wird die Definition des Bankgeldes („D“) um gerade diese Einlagen ausgeweitet, die Bar- und Bankgeldbestände der Nichtbanken entsprechend vermindert, die der Banken vergrößert.
- Tabelle 9: In einem dritten Klassifikationsversuch wurde (a) die Notenzirkulation und die Einlagen der Privatnotenbank von denen der Preußischen (1871 und 1873) bzw. der Reichsbank getrennt und als Anlagen des Privatbanksektors „D(N)“ behandelt; und (b) bei den Giroguthaben bei der Reichsbank zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Konten differenziert. Das Ergebnis wird hier als Version III wiedergegeben.
Zentrale Ergebnisse der Studie:
„In Deutschland hat sich die Geldmenge im engeren Sinne (also M1 aus Version I) 1870 bis 1913 etwas mehr als verfünffacht, das Nettosozialprodukt (in laufenden Preisen) nicht ganz verfünffacht (NSP nach W.G. Hoffmann, 1965, Tabelle 122, S. 505-509)… Legen wir unserem Vergleich eine weitere Definition der Geldmenge zugrunde, also M2 von Tabelle 6 (d.h. unter Mitberücksichtigung der Sparkassen, Kreditgenossenschaften etc., Version II), so stellen wir für denselben Zeitraum für Deutschland einen Steigerungsfaktor von ca. 9,5 fest. Das deutet auf die bemerkenswerte Tatsache hin, dass in Deutschland ausgesprochene Spareinlagen eine weitaus größerre Bedeutung als Form der Vermögenshaltung hatten …
Trotz signifikanter Strukturunterschiede zwischen Deutschland und den UISA 1870 -1913 kann behauptet werden, dass in beiden Ländern ein starkes Wirtschaftswachstum von einem starken Anstieg der Geldmenge begleitet worden ist … Rapides Wirtschaftswachstum und monetäres Wachstum scheinen also Hand in Hand gegangen zu sein … Der größte Teil des Zuwachses der Geldmenge ist durch ‚Delta’ H zu erklären – etwa 60%. Es ist übrigens auch kein Zufall, dass sich der Wachstumstrend in H und auch in M in den 1890er Jahren beschleunigt hat- gerade in der Zeit, in der eine starke Vermehrung der Weltgoldproduktion stattfand. Der zweitgrößte Einfluss ist in der Kassenhaltungspolitik der Nichtbanken, also in (D/C) (mit von 30 bis fast 40%) zu finden, ein geringerer Rest in einer Steigerung von (D/R).
Der säkulare Wachstumstrend wurde mehrfach durch Schwankungen unterbrochen, an denen auch der Zusammenhang Geldmenge – Gesamtwirtschaft deutlich gesehen werden kann. Tabelle 7 zeigt die Relation auf. Zwei Probleme sind allerdings zu unterscheiden: 1. Das Problem der statistischen Korrelation der jährlichen Änderungen unserer Variablen (mit und ohne Lag); und 2. das Problem des Krisen- und Depressionsverhaltens des Geld- und Bankensystems. Zum ersten Problem kann man auf Tabelle 7 verweisen. Hinzuzufügen ist vielleicht nur noch die Beobachtung, dass für Deutschland wie für die USA 1870 – 1913 Änderungen der Geldmenge meistens Änderungen der gesamtwirtschaftlichen Aktivität etwas vorangegangen sind …
Unsere Tabellen und Schaubilder zeigen einen deutlichen Trendumbruch in den 1890er Jahren. Die erste Periode (abgesehen von den ‚Gründerjahren’ 1870-1873) war durch ein fallendes bis stagnierendes Preisniveau, ein langsam wachsendes Einkommen und eine langsam wachsende Geldmenge gekennzeichnet, ist auch daher mit Recht als ‚Große Depression’ bezeichnet worden. In der zweiten Periode zeigte Deutschland ein fast umgekehrtes Bild, mit einer stark wachsenden Geldzirkulation, stark steigenden Preisen, und schnellem Wachstum des Volkseinkommens. Die ‚Große Depression’ wurde von der Krise von 1873 eingeleitet. Nach unseren Daten war sie staatlicherseits zunächst von einer Ge3ldvernichtung verschärft, und dann von einer unzureichend monetären Expansion prolongiert worden. Die Geldmenge-Expansion der Boomphase 1870-1873 (von ca. 29%) war nach der Geldmengendefinition von Tabelle 5 im wesentlichen von H – der Vermehrung des vom Staat produzierten Supergelder – getragen worden. Dieses „H“ von Tabelle 5 schließt allerdings den Notenumlauf einer Reihe von Privatnotenbanken ein, deren Aktivität für die 1870er Jahre zum Teil zu dem Geschäftsbankensektor gezählt werden könnte (vgl. Version III, Tabelle 9). Die Geldschrumpfung 1873 – 1873 lief analog: H ging um fast 600 Millionen Mark (oder um 17 Prozent) zurück, die Gesamtgeldmenge, M, um nicht ganz 900 Millionen (oder ca. 18 Prozent). Nichtbanken erhöhten ihre Bargeldbestände auf Kosten des Bankgeldes, reduzierten also (D/C), während sich die Geschäftsbanken insofern antizyklisch verhielten, als sie (D/R) nicht reduzierten, sondern ansteigen ließen, was möglicherweise als Ausdruck der gesunkenen Profitstabilität und hart gewordenen Konkurrenz nach 1873 ausgelegt werden könnte. Legt man die Zahlen von Hoffmann, 1965, S. 814-815, zugrunde, ist ein Rückgang in H um fast ein Drittel, 1873-1878, festzustellen, aber diese Zahlen sind irreführend, da sie ab 1876 einer Definitionsänderung unterliegen. Vom Tiefpunkt 1877/1878 ging es auch nur langsam aufwärts, und die langsame Vermehrung von H war ein Grund dafür: 1878-1885 z.B. wuchs H um ca. drei Prozent, M um 16 Prozent. Daß die Großhandelspreise 1873-1885 um fast 40 % sanken, ist z.T. auf diese Geldbremsen zurückzuführen, denn die Produktion musste von vielen Unternehmern – um ihre Fixkosten zu decken – gesteigert werden; diese betriebspolitische Reaktion vermochte indessen nicht einen enormen Anstieg der Konkurshäufigkeit nach 1873 abzuwehren.
Dieses Bild der Geldkonjunktur der 1870er und 1880er Jahre ist zum Teil von den gewählten Definitionen der Geldmenge abhängig. Definieren wir Zentralbankgeld nämlich als die Notenzirkulation plus Einlagen bei der Preußischen bzw. Reichsbank, und zählen wir die übrig bleibende Notenzirkulation und Einlagen der „Privatnotenbanken" zum Geschäftsbankensektor (und die staatlichen Reichsbankguthaben zum Staat), so sieht die Entwicklung folgendermaßen aus: Die Expansion 1871-1873 ist mehr von Bankgeldschöpfung (D) als von H getragen worden. In absoluten Zahlen stieg D um fast 1,2 Milliarden Mark, H um ungefähr die Hälfte dieser Summe. Auch die Schrumpfung 1873-1878 zeigte eine ähnliche Relation. 1878-1885 ist jedoch das staatliche Bremsen noch deutlicher, mit einem Zuwachs von ca. 1 Prozent gegenüber einer Zunahme von M von ca.17 Prozent. Das heißt, das Umdefinieren verstärkt die Konjunkturschwankungen etwas, vermindert auch den staatlichen Beitrag zur Deflation. Eine wesentliche Anderung der o. a. Interpretation der geldpolitischen Rolle des Staates wird aber hierdurch n i c h t bewirkt.
Unterstellt man dem Staat eine Konjunktur stabilisierende Verantwortung - was sicherlich eine unhistorische aber dennoch möglicherweise lehrreiche Unterstellung wäre - so scheint sein Verhalten nur mit mangelnder Information oder dem Glauben an der „Gesund-Schrumpfen-Theorie" der Konjunkturpolitik erklärbar zu sein. Man darf freilich den Schwierigkeitsgrad der neuen wirtschaftspolitischen Aufgaben nicht unterschätzen. Die Freigabe der Konzessionierung von A.G.'s 1870 hat zu einer starken Gründungswelle vor allem im Bankensektor geführt; Mittel und Wege zur Steuerung ihrer Aktivität mußten gefunden werden. Gleichzeitig war man in diesem Zusammenhang dabei, Zentralbankfunktionen einer neuen Institution (der Reichsbank) zu übertragen, und eine neue Goldwährung einzuführen. Darüber hinaus war das stark ausgebaute Eisenbahnnetz Deutschlands nunmehr nach 1874 sanierungsbedürftig geworden. Und schließlich war die wirtschaftspolitische Energie des Staates auf die Frage der Handelspolitik konzentriert: Geldpolitik war für den Staat sozusagen noch kein Begriff").
Letzten Endes bleibt jedoch die Tatsache bestehen, daß die monetäre Schrumpfung ein Bestandteil der „Großen Depression" gewesen ist, dessen kontraktive Wirkung durch eine anders geartete Geldpolitik hätte gemildert oder gar vermieden werden können. Zumindest ist das eine interessante und plausible Hypothese. Es ist interessant zu spekulieren, z. B. ob eine expansivere Geldpolitik zu dieser Zeit durchführbar gewesen wäre, die eine wesentliche Wirkung auf die tatsächlich versuchten „Depressionslösungen" - nämlich Schutzzölle und Kartellbildung - gehabt hätte.
Es ist auf jeden Fall lehrreich, die tatsächlich verfolgte „Geldpolitik" in Deutschland in den darauf folgenden Jahren zu beobachten und sie mit der amerikanischen Erfahrung auf dem Gebiet zu vergleichen. In einem gewissen Sinn scheint die deutsche Geldpolitik von der Krise der 1870er Jahre gelernt zu haben; 1885 markiert die letzte signifikante Schrumpfung des „Supergeldes", nennenswerte Schwierigkeiten traten nur noch 1901 und (in geringerem Maße) 1907 auf, und wurden bald wieder - 1901 durch kräftige Rediskontierung bei der Reichsbank - beseitigt").
Ausblick:
Das hier vorgeführte empirische Material bedarf Verbesserungen, Ergänzungen:
(a) eine klarere Trennung zwischen den staatlichen und nichtstaatlichen Geldbeständen,
(b) fundiertere Schätzungen über die Einlagen der Privatbankiers,
(c) die Substitution von Jahresdurchschnittszahlen für Jahresabschlusszahlen,
(d) angaben über die Entwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs – die u.U. in Bestandszahlen nicht gut widergespiegelt werden,
(e) Angaben über die Profitabilität des Bankensektors.
Das Fernziel der Arbeit ist eine Erklärung der Rolle des monetären Systems im Wirtschaftswachstumsprozess. Der Beitrag des monetären Systems zum Wirtschaftswachstum erschöpft sich natürlich nicht in Änderungen des Geldumlaufs, kann aber m.E. ohne eine vorangehende Berücksichtigung dieser Änderungen nicht klar erfasst werden. Als einzige Recheneinheit, als allgemeines Tauschmittel und als liquideste Vermögensform bildet das Geld den Eckstein sozusagen, von dem aus das monetäre Gebäude aufgebaut werden muss … Wir gehen davon aus, dass das Wirtschaftswachstum das Produkt einer Interaktion der Gesamtnachfrage und der Investitionen gewesen ist. Es gilt dann die Beeinflussung dieser zwei Variablen durch monetäre Instrumente und Institutionen nachzuweisen.“ (Tilly, a.a.O., S. 348-355).
In der vorliegenden Untersuchung stellt Richard H. Tilly Datenmaterial zur gesamten geldwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands zusammen. Dabei handelt es sich um eine Fragestellung, die die Einheitlichkeit geld- und güterwirtschaftlicher Aspekte des Wirtschaftswachstums unterstreichen soll. Der vorgestellte Taxonomie des Geldumlaufs ist nicht als Versuch zu verstehen, in einer einzigen Variablen - wie die Geldmenge - eine neue und bessere Erklärung des deutschen Industrialisierungsverlaufs zu sehen, sondern als Versuch, den Anfang einer systematischen Beschreibung des monetären Sektors zu machen, damit dieser Sektor systematischer als bisher in Beziehung zum realökonomischen Geschehen gesetzt werden kann.
Seine Angaben fußen im Wesentlichen auf Modifikationen der Angaben bei W. G. Hoffmann (Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin/Heidelberg/New York., 1965). Zu diesem Zweck stützt sich Tilly auf ein von Friedman und Schwartz in ihrem bedeutenden geldgeschichtlichen Werk entwickelten Klassifikationsschema (Friedmann, M./Schwartz, A., 1963: A Monetary History of the United States. Princeton, N.J., besonders Appendix B, S. 776-808). Der hier zugrunde gelegte Aufsatz von Tilly bringt neue jährliche Schätzungen des Geldumlaufs in Deutschland, 1870 – 1913. Dem Klassifikationsschema von Friedman und Schwartz folgend, werden einzelne Komponenten des Gesamtgeldumlaufs (M) geschätzt und zueinander in Beziehung gesetzt: Metallgeldreserven der Banken, Bankeinlagen der Nichtbanken, Bestände der Nichtbanken an Noten der Zentralnotenbank usw. Nach der Diskussion der geschätzten Daten werden diese analysiert. Ein Vergleich zur Entwicklung in den USA, 1870-1913, zeigt interessante Parallelen und Differenzen. Die große Bedeutung der Edelmetallbewegungen für den Gesamtgeldumlauf in beiden Ländern wird deutlich.
Gegenstand des 1973 publizierten Aufsatzes von Tilly sind die Ergebnisse dieser Klassifikation bzw. Reklassifikation deutscher geldhistorischer Daten. „Der Versuch, die Heterogenität des deutschen Geldsystems 1870 – 1913 in die Zwangsjacke einer auf amerikanische geldpolitische Verhältnisse zugeschnittene Taxonomie hineinzupressen, identifiziert nicht nur eine Reihe von interessanten Aspekten und Eigentümlichkeiten des deutschen monetären Systems, die sonst nicht in dieser Klarheit erkannt werden könnten, sondern auch das Vorhandensein mehrerer bedeutender Datenlücken, deren Schließung wir jetzt als eine Voraussetzung signifikanter Aussagen über die Geld- und Bankpolitik des Kaiserreichs ansehen müssen“ (Tilly, R.H., 1973: Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland, 1870 bis 1913, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 187, Heft 4, S. 330). Die zweidimensionale Klassifikation nach Friedman/Schwartz teilt die Gesamtzirkulation der Geldmenge zunächst auf
- nach Besitzern:
Nicht-Notenbanken: N;
Banken: B;
Zentralnotenbank: S
und nach
- konkreten Geldformen:
Metallgeld: S;
Banknoten: N;
Staatspapiergeld: U;
Staatsbuchgeld: F;
Bankeinlagen: D;
Zusammen (ohne Differenzierung nach Besitzern): S’; N’, U’, F’ und D’;
Gesamt: M = Geldmenge; R = Reserven.
Hiernach entspricht also S(N) dem Wert des jeweils im Besitz der Nicht-Bank-Wirtschaftssubjekten befindlichen Metallgeldes, N(B) dem Wert der von den Banken jeweils gehaltenen Banknoten etc. „Die Bedeutung einer Differenzierung der Gesamtzirkulation nach Metallgeld, Banknoten, Bankeinlagen etc. für eine historische Untersuchung ist offensichtlich und bedarf keiner weiteren Diskussion. Problematisch oder kontrovers können in diesem Zusammenhang nur der Grad der Differenzierung und der Inhalt der benutzten Kategorien sein. Anders liegt die Unterscheidung nach ‚Besitzern; sie gründet in der vielleicht nicht so offensichtlichen Rollenzuteilung unter den Staat, die Banken und den Nichtbank-Wirtschaftssubjekten als ‚Geldproduzenten’… Der Staat (oder die Zentralbank) tritt als Produzent der Bankreserven und Bargeldbestände der Nichtbanken auf; die Banken als Produzenten des Bankgeldes und Nachfrager nach Bargeld; die Nichtbanken als ausschließliche Abnehmer des Bankgeldes und (mit den Banken) konkurrierende Nachfrager nach Bargeld“ (Tilly, a.a.O., S. 331).
Für das Geldangebot verwenden Friedman/Schwartz eine Identitätsgleichung, in der die Geldmenge M von drei unmittelbaren Determinanten bedingt ist: das Basisgeld (H) („high-powered money“), das vom Staat in Umlauf gesetzt wird; der Reservequotient („deposit/reserve ratio“), also die vom Bankensystem regulierte Relation zwischen Bankreserven und Bankgeld und der Bargeldquotient („deposit/cash ratio“), also die vom Verhalten der Nichtbank-Wirtschaftssubjekte bestimmte Relation zwischen Bargeld und Bargeldbeständen im Nichtbankensystem:
M = H * [ (D/R*(1+D/C) ] / [ D/R + D/C ] .
„Die Gleichung für die Geldmenge (M) ist ein Instrument zur Beschreibung der Bewegungen der Gesamtgeldmenge, die sich aus der Interaktion der Geldnachfrage und des Geldangebots jeweils ergeben. Folgende Größen sind definiert:
“C“ ist die Wertsumme der jeweils im Besitz des Nichtbankensektors (N) befindlichen Münzen, Banknoten, Reichskassenscheine und Giroguthaben bei der Reichsbank bzw. den Notenbanken (C = S(N) + N(N) + U(N) + F(N), mit N = Nichtbanken);
„R“ entspricht den Reserven der nichtstaatlichen Banken: ihre Bestände an Metallgeld, Banknoten, Reichskassenscheine und Giroguthaben bei der Reichsbank (R = S(B) + N(B) + U(B) + F(B), mit B = Banken);
„H“ ist die Summe von „C“ und „R“, also das „Supergeld“ (bei Friedmann/Schwartz: „high-powered money“), das vom Staat (hier: Notenbanken und Münzanstalten) in Umlauf gesetzt wird (H = R + C);
„D“ entspricht schließlich den Sicht- und Termineinlagen der Nichtbanken bei den nichtstaatlichen Banken (D = D(N), mit N = Nichtbanken).
„M“ ist gleich der Gesamtgeldmenge (M = D + C).
Die Gesamtgeldmenge „M“ wird hiernach jeweils durch die Höhe des vom Staat ‚produzierten’ Bargeldes „H“, von dem Verhalten der Banken bzw. von der vom Bankensystem regulierten Relation zwischen Bankreserven und Bankgeld (D/R) und vom Verhalten der Nichtbank-Wirtschaftssubjekte bzw. von der Relation zwischen Bankgeld und Bargeldbeständen im Nichtbankensektor (D/C) bestimmt.
Wie die Gleichung (M = D(N) + C) impliziert, ist die relevante Geldmenge „M“ das Geld im Besitz des Nichtbankensektors (N), da hier nahezu die ganze wirtschaftliche Produktion und Vermögensbildung konzentriert ist, und schließlich diese durch eine Geldanalyse erklärt werden soll. Das bedeutet, dass die Schulden und Guthaben der Banken (ohne Notenemissionsrecht) untereinander durch Saldierung aus der Betrachtung eliminiert werden, ferner dass die Guthaben staatlicher Organe ebenfalls nicht erscheinen, da sie (in unbekannter Höhe) undifferenziert unter den Guthaben der Nichtbanken behandelt werden … Bemerkenswert an diesem Schema ist vor allem dessen Hervorhebung des Unterschiedes zwischen staatlichem „Supergeld“ und privatem Bankgeld: es impliziert doch staatliche geldpolitische Steuerungsmöglichkeiten, die sehr wirksam sein können und die sich sehr leicht überprüfen lassen …
Unsere Aufgabe ist die Erstellung von Langzeitreihen der Variablen „C“, „R“ und „D“, d.h. jährliche Angaben für diese Variablen müssen aus den vorhandenen und noch zu schätzenden jährlichen Daten für S(N), S(B), S(N) etc. abgeleitet werden. Aus empirischen sowie analytischen Gründen müssen dabei vereinfachende Annahmen gemacht und von den Dutzenden von möglichen Schätzungswegen eine Auswahl getroffen werden. Wir präsentieren hier zwei Hauptversionen mit einigen kleineren Variationen“ (Tilly, a.a.O., S. 331f).
Die Tabellen 5 und 6 und (ergänzend) 9 fassen die Ergebnisse der Schätzungen zusammen: M(1), Geldmenge im engeren Sinne; M(2), Geldmenge im weiteren Sinne und M(3), Geldmenge aus der Version III.
- Die Tabelle 5 enthält eine Zeitreihe, die ‚Bankgeld’ (oder „D“) den Konto-Korrentverbindlichkeiten der Kreditaktienbanken und den Privatbankiers gleichsetzt. Das bedeutet, dass die Einklagen der Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Hypothekenbanken und der öffentlich-rechtlichen Bodenkreditinstituten ausgeschlossen werden, ferner dass diese Institutionen überhaupt als Teil des „Nichtbanken-Sektors“ behandelt werden. Infolgedessen werden ihre Bestände an Bar- und Bankgeld zu den Beständen der Nichtbanken gezählt (als Teil von „C“ und „D“).
- In Tabelle 6 wird die Definition des Bankgeldes („D“) um gerade diese Einlagen ausgeweitet, die Bar- und Bankgeldbestände der Nichtbanken entsprechend vermindert, die der Banken vergrößert.
- Tabelle 9: In einem dritten Klassifikationsversuch wurde (a) die Notenzirkulation und die Einlagen der Privatnotenbank von denen der Preußischen (1871 und 1873) bzw. der Reichsbank getrennt und als Anlagen des Privatbanksektors „D(N)“ behandelt; und (b) bei den Giroguthaben bei der Reichsbank zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Konten differenziert. Das Ergebnis wird hier als Version III wiedergegeben.
Zentrale Ergebnisse der Studie:
„In Deutschland hat sich die Geldmenge im engeren Sinne (also M1 aus Version I) 1870 bis 1913 etwas mehr als verfünffacht, das Nettosozialprodukt (in laufenden Preisen) nicht ganz verfünffacht (NSP nach W.G. Hoffmann, 1965, Tabelle 122, S. 505-509)… Legen wir unserem Vergleich eine weitere Definition der Geldmenge zugrunde, also M2 von Tabelle 6 (d.h. unter Mitberücksichtigung der Sparkassen, Kreditgenossenschaften etc., Version II), so stellen wir für denselben Zeitraum für Deutschland einen Steigerungsfaktor von ca. 9,5 fest. Das deutet auf die bemerkenswerte Tatsache hin, dass in Deutschland ausgesprochene Spareinlagen eine weitaus größerre Bedeutung als Form der Vermögenshaltung hatten …
Trotz signifikanter Strukturunterschiede zwischen Deutschland und den UISA 1870 -1913 kann behauptet werden, dass in beiden Ländern ein starkes Wirtschaftswachstum von einem starken Anstieg der Geldmenge begleitet worden ist … Rapides Wirtschaftswachstum und monetäres Wachstum scheinen also Hand in Hand gegangen zu sein … Der größte Teil des Zuwachses der Geldmenge ist durch ‚Delta’ H zu erklären – etwa 60%. Es ist übrigens auch kein Zufall, dass sich der Wachstumstrend in H und auch in M in den 1890er Jahren beschleunigt hat- gerade in der Zeit, in der eine starke Vermehrung der Weltgoldproduktion stattfand. Der zweitgrößte Einfluss ist in der Kassenhaltungspolitik der Nichtbanken, also in (D/C) (mit von 30 bis fast 40%) zu finden, ein geringerer Rest in einer Steigerung von (D/R).
Der säkulare Wachstumstrend wurde mehrfach durch Schwankungen unterbrochen, an denen auch der Zusammenhang Geldmenge – Gesamtwirtschaft deutlich gesehen werden kann. Tabelle 7 zeigt die Relation auf. Zwei Probleme sind allerdings zu unterscheiden: 1. Das Problem der statistischen Korrelation der jährlichen Änderungen unserer Variablen (mit und ohne Lag); und 2. das Problem des Krisen- und Depressionsverhaltens des Geld- und Bankensystems. Zum ersten Problem kann man auf Tabelle 7 verweisen. Hinzuzufügen ist vielleicht nur noch die Beobachtung, dass für Deutschland wie für die USA 1870 – 1913 Änderungen der Geldmenge meistens Änderungen der gesamtwirtschaftlichen Aktivität etwas vorangegangen sind …
Unsere Tabellen und Schaubilder zeigen einen deutlichen Trendumbruch in den 1890er Jahren. Die erste Periode (abgesehen von den ‚Gründerjahren’ 1870-1873) war durch ein fallendes bis stagnierendes Preisniveau, ein langsam wachsendes Einkommen und eine langsam wachsende Geldmenge gekennzeichnet, ist auch daher mit Recht als ‚Große Depression’ bezeichnet worden. In der zweiten Periode zeigte Deutschland ein fast umgekehrtes Bild, mit einer stark wachsenden Geldzirkulation, stark steigenden Preisen, und schnellem Wachstum des Volkseinkommens. Die ‚Große Depression’ wurde von der Krise von 1873 eingeleitet. Nach unseren Daten war sie staatlicherseits zunächst von einer Ge3ldvernichtung verschärft, und dann von einer unzureichend monetären Expansion prolongiert worden. Die Geldmenge-Expansion der Boomphase 1870-1873 (von ca. 29%) war nach der Geldmengendefinition von Tabelle 5 im wesentlichen von H – der Vermehrung des vom Staat produzierten Supergelder – getragen worden. Dieses „H“ von Tabelle 5 schließt allerdings den Notenumlauf einer Reihe von Privatnotenbanken ein, deren Aktivität für die 1870er Jahre zum Teil zu dem Geschäftsbankensektor gezählt werden könnte (vgl. Version III, Tabelle 9). Die Geldschrumpfung 1873 – 1873 lief analog: H ging um fast 600 Millionen Mark (oder um 17 Prozent) zurück, die Gesamtgeldmenge, M, um nicht ganz 900 Millionen (oder ca. 18 Prozent). Nichtbanken erhöhten ihre Bargeldbestände auf Kosten des Bankgeldes, reduzierten also (D/C), während sich die Geschäftsbanken insofern antizyklisch verhielten, als sie (D/R) nicht reduzierten, sondern ansteigen ließen, was möglicherweise als Ausdruck der gesunkenen Profitstabilität und hart gewordenen Konkurrenz nach 1873 ausgelegt werden könnte. Legt man die Zahlen von Hoffmann, 1965, S. 814-815, zugrunde, ist ein Rückgang in H um fast ein Drittel, 1873-1878, festzustellen, aber diese Zahlen sind irreführend, da sie ab 1876 einer Definitionsänderung unterliegen. Vom Tiefpunkt 1877/1878 ging es auch nur langsam aufwärts, und die langsame Vermehrung von H war ein Grund dafür: 1878-1885 z.B. wuchs H um ca. drei Prozent, M um 16 Prozent. Daß die Großhandelspreise 1873-1885 um fast 40 % sanken, ist z.T. auf diese Geldbremsen zurückzuführen, denn die Produktion musste von vielen Unternehmern – um ihre Fixkosten zu decken – gesteigert werden; diese betriebspolitische Reaktion vermochte indessen nicht einen enormen Anstieg der Konkurshäufigkeit nach 1873 abzuwehren.
Dieses Bild der Geldkonjunktur der 1870er und 1880er Jahre ist zum Teil von den gewählten Definitionen der Geldmenge abhängig. Definieren wir Zentralbankgeld nämlich als die Notenzirkulation plus Einlagen bei der Preußischen bzw. Reichsbank, und zählen wir die übrig bleibende Notenzirkulation und Einlagen der „Privatnotenbanken" zum Geschäftsbankensektor (und die staatlichen Reichsbankguthaben zum Staat), so sieht die Entwicklung folgendermaßen aus: Die Expansion 1871-1873 ist mehr von Bankgeldschöpfung (D) als von H getragen worden. In absoluten Zahlen stieg D um fast 1,2 Milliarden Mark, H um ungefähr die Hälfte dieser Summe. Auch die Schrumpfung 1873-1878 zeigte eine ähnliche Relation. 1878-1885 ist jedoch das staatliche Bremsen noch deutlicher, mit einem Zuwachs von ca. 1 Prozent gegenüber einer Zunahme von M von ca.17 Prozent. Das heißt, das Umdefinieren verstärkt die Konjunkturschwankungen etwas, vermindert auch den staatlichen Beitrag zur Deflation. Eine wesentliche Anderung der o. a. Interpretation der geldpolitischen Rolle des Staates wird aber hierdurch n i c h t bewirkt.
Unterstellt man dem Staat eine Konjunktur stabilisierende Verantwortung - was sicherlich eine unhistorische aber dennoch möglicherweise lehrreiche Unterstellung wäre - so scheint sein Verhalten nur mit mangelnder Information oder dem Glauben an der „Gesund-Schrumpfen-Theorie" der Konjunkturpolitik erklärbar zu sein. Man darf freilich den Schwierigkeitsgrad der neuen wirtschaftspolitischen Aufgaben nicht unterschätzen. Die Freigabe der Konzessionierung von A.G.'s 1870 hat zu einer starken Gründungswelle vor allem im Bankensektor geführt; Mittel und Wege zur Steuerung ihrer Aktivität mußten gefunden werden. Gleichzeitig war man in diesem Zusammenhang dabei, Zentralbankfunktionen einer neuen Institution (der Reichsbank) zu übertragen, und eine neue Goldwährung einzuführen. Darüber hinaus war das stark ausgebaute Eisenbahnnetz Deutschlands nunmehr nach 1874 sanierungsbedürftig geworden. Und schließlich war die wirtschaftspolitische Energie des Staates auf die Frage der Handelspolitik konzentriert: Geldpolitik war für den Staat sozusagen noch kein Begriff").
Letzten Endes bleibt jedoch die Tatsache bestehen, daß die monetäre Schrumpfung ein Bestandteil der „Großen Depression" gewesen ist, dessen kontraktive Wirkung durch eine anders geartete Geldpolitik hätte gemildert oder gar vermieden werden können. Zumindest ist das eine interessante und plausible Hypothese. Es ist interessant zu spekulieren, z. B. ob eine expansivere Geldpolitik zu dieser Zeit durchführbar gewesen wäre, die eine wesentliche Wirkung auf die tatsächlich versuchten „Depressionslösungen" - nämlich Schutzzölle und Kartellbildung - gehabt hätte.
Es ist auf jeden Fall lehrreich, die tatsächlich verfolgte „Geldpolitik" in Deutschland in den darauf folgenden Jahren zu beobachten und sie mit der amerikanischen Erfahrung auf dem Gebiet zu vergleichen. In einem gewissen Sinn scheint die deutsche Geldpolitik von der Krise der 1870er Jahre gelernt zu haben; 1885 markiert die letzte signifikante Schrumpfung des „Supergeldes", nennenswerte Schwierigkeiten traten nur noch 1901 und (in geringerem Maße) 1907 auf, und wurden bald wieder - 1901 durch kräftige Rediskontierung bei der Reichsbank - beseitigt").
Ausblick:
Das hier vorgeführte empirische Material bedarf Verbesserungen, Ergänzungen:
(a) eine klarere Trennung zwischen den staatlichen und nichtstaatlichen Geldbeständen,
(b) fundiertere Schätzungen über die Einlagen der Privatbankiers,
(c) die Substitution von Jahresdurchschnittszahlen für Jahresabschlusszahlen,
(d) angaben über die Entwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs – die u.U. in Bestandszahlen nicht gut widergespiegelt werden,
(e) Angaben über die Profitabilität des Bankensektors.
Das Fernziel der Arbeit ist eine Erklärung der Rolle des monetären Systems im Wirtschaftswachstumsprozess. Der Beitrag des monetären Systems zum Wirtschaftswachstum erschöpft sich natürlich nicht in Änderungen des Geldumlaufs, kann aber m.E. ohne eine vorangehende Berücksichtigung dieser Änderungen nicht klar erfasst werden. Als einzige Recheneinheit, als allgemeines Tauschmittel und als liquideste Vermögensform bildet das Geld den Eckstein sozusagen, von dem aus das monetäre Gebäude aufgebaut werden muss … Wir gehen davon aus, dass das Wirtschaftswachstum das Produkt einer Interaktion der Gesamtnachfrage und der Investitionen gewesen ist. Es gilt dann die Beeinflussung dieser zwei Variablen durch monetäre Instrumente und Institutionen nachzuweisen.“ (Tilly, a.a.O., S. 348-355).
Methodologie
Untersuchungsgebiet:
Deutschland, 1870 bis 1913.
Deutschland, 1870 bis 1913.
Mehr
Quellentypen:
Hoffmann, W.G., 1965: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin/Heidelberg/New York, S. 751-752, S. 814-815.
Kirchhain, G., 1967: Geldmenge, Zinssätze und Wachstum in Deutschland, 1870-1913. WISO Fakultät Universität Münster. Unveröffentlichte Diplom-Arbeit.
Spiethoff, A., 1955: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Band 2. Bern, Tafel 24.
Hoffmann, W.G., 1965: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin/Heidelberg/New York, S. 751-752, S. 814-815.
Kirchhain, G., 1967: Geldmenge, Zinssätze und Wachstum in Deutschland, 1870-1913. WISO Fakultät Universität Münster. Unveröffentlichte Diplom-Arbeit.
Spiethoff, A., 1955: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Band 2. Bern, Tafel 24.
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Anmerkungen:
(zur Schätzung siehe die ausführliche Ableitung in dem Aufsatz von Tilly in der beigefügten PDF-Datei).
(1) Geld- und Währungsordnung seit 1870 (Übersichten, Tabellen A.2 – A.4):
(Zitat aus: Tilly, R., 2003: Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 89 – 92).
„Die letzte Etappe der deutschen „Währungsunion" wurde eigentlich schon mit dem Krieg Preußens gegen Österreich eingeläutet. Als Folge schied Österreich aus der Münzunion aus, aber noch wichtiger, die Mitgliedsstaaten des 1867 gegründeten Norddeutschen Bundes traten ihre Souveränität in geld- und bankpolitischen Angelegenheiten an den Bund ab. Schon im März 1870 erließ man das „Banksperrgesetz", das dem Bund die Kontrolle über das Banknotenausgaberecht übertrug. Es folgte im Juni 1870 ein ähnliches Gesetz zur Regelung der Ausgabe von Staatspapiergeld. Mit dem Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund bzw. Deutschen Bund 1870 galten diese Gesetze - mit einigen Ausnahmen - auch für sie. Durch diese Verträge und anschließend auch durch die Reichsgründung erfolgten dann die Schritte, welche die „deutsche 'Währungsunion" vollendeten.
Bekanntlich vollzogen sich die währungs- und geldpolitischen Reformen der 1870er Jahre in drei zusammenhängenden Bereichen:
1. die Vereinheitlichung der deutschen Währung: an die Stelle von Taler- und Guldensystem trat die Mark, eingeteilt in 100 Pfennige, mit 1 Mark = 1/3 Taler = 0,44 Gulden;
2. der Übergang zum Goldstandard mit 1.395 Mark = 1 Pfund Feingold = 15,5 Pfund Feinsilber; und
3. die Regelung des Notenbankwesens zusammen mit der Gründung der Reichsbank.
Chronologisch war der erste entscheidende Schritt - abgesehen vom Abschluss des Krieges gegen Frankreich - die zunächst als Notmaßnahme gedachte Einstellung des Silberkaufes der preußischen Münzbehörde im Juli 1871. Damit war der Abschied vom Silberstandard angelaufen. Das erste Reichsgesetz zur neuen Währung war aber das Reichsmünzgesetz vom 4. Dezember 1871, das die Mark einführte, 10- und 20-Mark Goldmünzen autorisierte, die Ausmünzung von Silbermünzen durch die Bundesstaaten verbot und die Einziehung abgenutzter Silbermünzen auf Kosten des Reiches vorsah. Das Gesetz stellte einen großen Schritt in Richtung Goldstandard dar. Es wurde ergänzt durch ein weiteres Münzgesetz vom 9. Juli 1873, das die Herstellung von 5-Mark Goldmünzen, das freie Prägerecht von Goldmünzen auf Rechnung von Privaten, die Außerkurssetzung der Silbermünzen - mit Ausnahme der Silbertaler - und die Prägung von unterwertigen Silbermünzen durch das Reich autorisierte. Hiermit war der Goldstandard etabliert. Es ist freilich wichtig, diese währungspolitischen Schritte vor dem Hintergrund des Deutsch-Französischen Krieges zu sehen, denn sie wären finanz- und innenpolitisch ohne die Kriegsentschädigung von 5 Mrd. Goldfranken, die Frankreich an das Deutsche Reich entrichten musste, kaum durchführbar gewesen. Das mag selbstverständlich klingen, aber es soll keineswegs vergessen werden.
Das Münzgesetz vom 9. Juli 1873 berührte auch die Frage des Papiergeldes und des Notenbankwesens. Es setzte die kleinste zulässige Banknote auf 100 Mark und sah die Einlösung des Staatspapiergeldes bis 1876 vor. Die wichtigsten Veränderungen auf diesem Gebiet sind jedoch durch das Bankgesetz vom 14. März 1875 sanktioniert worden. Zwei miteinander zusammenhängende Sachverhalte sollten hiermit geregelt werden. Zum einen ging es um die Regelung des Notenbankwesens insgesamt. Zu dieser Zeit gab es noch 33 Notenbanken in Deutschland. Aus makroökonomischen Erwägungen war eine Kontrolle über das Volumen ihrer Notenemission, über die Deckung des Notenumlaufs durch Metallgeld, über die Stückelung ihrer Noten, u.v.m. wünschenswert. Dieses Gesetz, wie schon das o.e. Münzgesetz, sollte die Notenbanken motivieren, sich aus dem Notenbankgeschäftsbereich zurückzuziehen und war in dieser Hinsicht recht erfolgreich. Zum anderen regelte das Gesetz die Organisationsstruktur und Geschäftsweise der neuen Zentralnotenbank, der Reichsbank. Darauf wird später zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist das bemerkenswerteste Ergebnis der Bankgesetzgebung dieser Zeit der Sieg einer relativ „zentralen" Zentralnotenbank über den „Notenbankpartikularismus" der Bundesstaaten.
Geldumlauf und Geldpolitik:
Die eben geschilderten Gesetze und Vereinbarungen brachten eine relativ stabile, einheitliche deutsche Währung hervor. Sie erfüllten somit eine wichtige Voraussetzung eines modernen, nationalen Geldsystems. Sie sicherten allerdings nicht automatisch eine der Volkswirtschaft „adäquate" Geldversorgung, weder quantitativ noch qualitativ. Dafür waren weitere institutionelle Veränderungen erforderlich. Sie lassen sich mit den vier Hauptkomponenten des aggregierten Geldumlaufs verbinden: mit dem Metallgeld, Staatspapiergeld, den Banknoten und dem privaten „Bankgeld". Im Folgenden wird zunächst die quantitative Entwicklung des Geldumlaufs in Deutschland behandelt. Anschließend kommt die Frage nach der dahinter stehenden Geldpolitik zur Diskussion.
Schätzungen zur Entwicklung des Geldumlaufs in Deutschland im 19. Jahrhundert sind freilich mit erheblichen Unsicherheitsmomenten behaftet. Für die Zeit bis ca. 1875 sind vor allem die Daten zum quantitativ wichtigsten Bestandteil, zur Münzgeldzirkulation, problematisch, weil zuverlässige Bestandszahlen zu Anfang des Jahrhunderts fehlen und die statistische Erfassung der seitdem erfolgten Im- und Exporte von Münzen äußerst dürftig ist. Trotzdem lassen sich aus den verschiedenen früheren Versuchen einige Zahlen zum Metallgeldumlauf auch für diese frühere Zeit schätzen. In der untenstehenden Tabelle 5-1 werden sie zusammen mit den bekannteren Zahlen der späteren 1870-1913 Periode präsentiert.
Zur Relativierung der Metallgeldentwicklung enthält die Tabelle 5-1 auch Schätzungen (a) des Geldumlaufs insgesamt und (b) des von Banken gehaltenen Metallgeldes. Hier lässt sich natürlich das große Gewicht des Metallgeldes vor 1875 erkennen, aber auch noch zwei weitere Veränderungen werden sichtbar. Erstens ging der Anteil des Metallgeldes an dem gesamten Geldumlauf in Deutschland schon vor 1875 deutlich zurück. Zweitens wurde das verfügbare Metallgeld zunehmend von Banken als Reserven gehalten und nicht von privaten Haushalten oder Unternehmen. Ob das Metallgeldwachstum in dieser Zeit dem Bedarf der Wirtschaft entsprach hat demnach nicht nur mit der Geldnachfrage dieser Haushalte und Unternehmen zu tun, sondern auch mit dem Verhalten von Banken. Das sind wichtige Aspekte des monetären Strukturwandels, auf die weiter unten einzugehen sein wird.
Im geldtheoretischen Verständnis des 19. Jahrhunderts war nur Metallgeld „echtes Geld" (oder „Bargeld"), während Instrumente wie Staatspapiergeld, Banknoten oder Bankeinlagen eher als „Kreditgeld" oder „Geldsurrogate" angesehen wurden. Das hing freilich mit der Ausbreitung dieser Geldformen unter der Bevölkerung zusammen, die in Tabelle 5-2 gezeigt wird. Die Tabelle umfasst die Schätzungen der Entwicklung der drei genannten Geldformen und die schon in Tabelle 5-1 enthaltene Gesamtgeldmengeschätzung. Wie bereits vorhin angedeutet haben die deutschen Staaten (außer Österreich) im 19. Jahrhundert nur in relativ bescheidenem Ausmaß Papiergeldemissionen betrieben. Wesentlich bedeutsamer war die Ausgabe von Banknoten. Schon in den 1860er Jahren lagen sie vor dem Staatspapiergeld. Die dominierende Rolle der preußischen Banknoten tritt auch zu dieser Zeit klar hervor, entsprechend dem im vorigen Abschnitt besprochenen „Siegeszug" der preußischen Talerwährung in Deutschland. Vor dem Hintergrund der vorhin diskutierten „Finanzrevolution" ist gerade diese Bevorzugung der Banknoten interessant, denn sie stellt gewissermaßen die Delegierung der Steuerung des Geldumlaufs an Notenbanken dar, die mit Privatkapital arbeiteten und marktorientiert handeln mussten. Rein quantitativ ragt hier allerdings die Entwicklung der Bankeinlagen - auch als „Buchgeld" bezeichnet - hervor. Bereits 1865 war der Umlauf dieser Geldform wesentlich größer als der geschätzte Metallgeldbestand (vgl. Tabelle 5-1). Weil privatwirtschaftlich agierende Geschäftsbanken dieses Geld „produzierten", könnte man sagen, dass die Geldversorgung der deutschen Wirtschaft schon in dieser Zeit weitgehend ein „Marktergebnis" gewesen sein müsste.
(2) Konkrete Bestimmung der Geldformen und der ‚Besitzer-Kategorien’:
„Die Klassifikationsmöglichkeiten für das deutsche Geldsystem 1870 bis 1913 können zunächst wie folgt definiert werden:
1. Metallgeld (S): Gold- und Scheidemünzen;
2. Banknoten (N): Noten der Preußischen Bank (1870-75), der Reichsbank (1876-1913) und der sog. Privatnotenbanken, 1870-1913;
3. Staatspapiergeld (U): Deutsche Staaten, 1870-71, (1872-1913) Reichskassenscheine;
4. Staatsbuchgeld (F): Einlagen bei den Notenbanken bzw. (1876-1913) Giroguthaben bei der Reichsbank;
5. Bankeinlagen (D): Sicht- und Termineinlagen bei: Kreditaktienbanken, Privatbankiers, Hypothekenbanken, öffentlich - rechtliche Bodenkreditinstitutionen, Kreditgenossenschaften, Sparkassen.
Bei der Interpretation der ‚Besitzer’ - Kategorien sind folgende technische Punkte von Bedeutung:
(a) Numerische Eintragungen unter ‚Nichtbanken’ werden normalerweise als Rest errechnet: z.B. S(N) = S’ – (S(B)+S(S)), N(N) = N’-(N(B)+N(S)) etc. Zu dieser Kategorie werden auch die Bestände der Sparkassen, der staatlichen Institutionen und Unternehmungen etc. gezählt, sofern diese nicht ausdrücklich unter ‚Banken’ oder ‚Staat’ erfasst werden.
(b) Die Kategorie ‚Banken’ enthält einmal Kreditbanken und Privatbankiers, einmal die Gesamtheit.
(c) Der ‚Staat’ wird den Notenbanken bzw. der Reichsbank gleichgesetzt, mit einer Ausnahme, die in dem dritten Klassifikationsversuch (Tabelle 9) zugrunde gelegt wird.
Grundsätzlich ist zweierlei zu der Aufteilung zu bemerken:
- Die Definition des Staates, wonach die Kassenbestände und Bankguthaben der Reichsregierung, der Bundesstaaten sowie der staatlichen Anstalten und Unternehmungen verschiedener Art zu den ‚Nichtbanken’ gezählt werden, lässt sich unter besonderer Hervorhebung der Geldpolitik rechtfertigen. Man unterstellt dabei, dass nur die explizit mit einem geldpolitischen Auftrag versehenen Staatsorgane für eine Bewertung der geldwirtschaftlichen Steuerung von Belang sind (Friedman/Schwartz, a.a.O., S. 777).
- Die scharfe Trennung zwischen Reichsbank – Notenbanken einerseits und ‚Banken’ andererseits übersieht das Konkurrenzverhältnis zwischen Reichsbank und den Geschäftsbanken – eins der zentralen Themen der Bankenenquete von 1908/09 – und wertet wahrscheinlich dabei die Privatnotenbanken als geldpolitischen Faktor übermäßig auf. Beide Nachteile können m.E. in Kauf genommen werden, zum ersten, weil die Reichsbank ohne Zweifel in erster Linie als geldpolitisches Instrument zu verstehen und zum zweiten aus arbeitstechnischen Gründen: vermengte jährliche Reichsbank- und Privatnotenbankstatistiken liegen nun schon einmal vor“ (Tilly, a.a.O., S. 334).
(3) Kommentar zu den Versionen I – III (Tabelle C.1, C.2, C.4):
„Unsere Aufgabe ist die Erstellung von Langzeitreihen der Variablen „C“, „R“ und „D“, d.h. jährliche Angaben für diese Variablen müssen aus den vorhandenen und noch zu schätzenden jährlichen Daten für S(N), S(B), S(N) etc. abgeleitet werden. Aus empirischen sowie analytischen Gründen müssen dabei vereinfachende Annahmen gemacht und von den Dutzenden von möglichen Schätzungswegen eine Auswahl getroffen werden. Wir präsentieren hier zwei Hauptversionen mit einigen kleineren Variationen“ (Tilly, a.a.O., S. 331f).
M(1) ist eine von Richard Tilly kalkulierte Geldmenge mit der engeren Definition von Bargeld + Kontokorrentverbindlichkeiten der Kreditaktienbanken und den Privatbanken.
M(2) beruht auf einer breiter gefassten Definition der Geldmenge, die zusätzlich die Einlagen der Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Hypothekenbanken und der öffentlich-rechtlichen Bodenkreditinstitute mitberücksichtigt. Eine Geldmengendefinition ist nicht besser oder schlechter als eine andere, sondern sie muss nach ihrer Relevanz zu den theoretischen und empirischen Fragen beurteilt werden.
Die Tabellen 5 (C.1) und 6 (C.2) und (ergänzend) 9 (C.4) fassen die Ergebnisse der Schätzungen zusammen: M(1), Geldmenge im engeren Sinne und M(2), Geldmenge im weiteren Sinne (d.h. unter Mitberücksichtigung der Sparkassen, Kreditgenossenschaften etc.) sowie ergänzend M(3) aus der Version III:
- C.1: Die Tabelle 5 enthält eine Zeitreihe, die ‚Bankgeld’ (oder „D“) den Konto-Korrentverbindlichkeiten der Kreditaktienbanken und den Privatbankiers gleichsetzt. Das bedeutet, dass die Einklagen der Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Hypothekenbanken und der öffentlich-rechtlichen Bodenkreditinstituten ausgeschlossen werden, ferner dass diese Institutionen überhaupt als Teil des „Nichtbanken-Sektors“ behandelt werden. Infolgedessen werden ihre Bestände an Bar- und Bankgeld zu den Beständen der Nichtbanken gezählt (als Teil von „C“ und „D“).
- C.2: In Tabelle 6 wird die Definition des Bankgeldes („D“) um gerade diese Einlagen ausgeweitet, die Bar- und Bankgeldbestände der Nichtbanken entsprechend vermindert, die der Banken vergrößert.
- C.4 (Tabelle 9): „In einem dritten Klassifikationsversuch wurde (a) die Notenzirkulation und die Einlagen der Privatnotenbank von denen der Preußischen (1871 und 1873) bzw. der Reichsbank getrennt und als Anlagen des Privatbanksektors „D(N)“ behandelt; und (b) bei den Giroguthaben bei der Reichsbank zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Konten differenziert. Das Ergebnis wird hier als Tabelle 9, Version III, wiedergegeben“ (Tilly, a.a.O., S 344).
Der allgemeine Schluss, der aus diesen Daten gezogen werden kann, ist ein dreifacher:
(1) Version III reflektiert größere Konjunkturschwankungen, was auf den doch stärkeren erwerbswirtschaftlichen Charakter der Privatnotenbanken hinzuweisen scheint.
(2) Die Abweichungen zwischen I und III bei den jährlichen Änderungsrichtungen reflektieren nicht nur eine unterschiedliche Geschäftsweise der Reichsbank und Privatnotenbanken, sondern Lags, da die quantitativen Abweichungen nicht groß sind und bei der Bildung von Zweijahresdurchschnitten fast völlig verschwinden.
(3) Trendmäßig 1870-1913 ist kaum ein Unterschied zwischen I und III zu erkennen, was als Argument für die dominierende Rolle des Metallgeldes insbesondere des Goldes bei der Entwicklung des Geldsystems in dieser Periode interpretiert werden könnte“ (Tilly, a.a.O., S. 361ff).
(4) Kommentar zu den Schätzungen von W.G. Hoffmann (siehe die Tabellen in der Untergliederung B.)
„Die Tabelle 3 zeigt …, dass die Geldumlaufstatistiken bei Hoffmann et al. eben Schätzungen sind (was insofern problematisch bleibt, als dort die Schätzmethode nicht hinreichend erläutert wird). Ein Grund der Diskrepanz scheint jedoch in der Hoffmannschen Verwendung von Jahresabschlussziffern zu liegen. Seine Geldumlaufstatistiken ab 1876 enthalten nämlich nicht die Metallgeldbestände der Notenbanken; diese befinden sich in einem anderen Teil des Buches unter dem Sammelbegriff ‚Kasse’ und sind Jahresendwerte (vgl. Hoffmann et al., S. 751f, S. 814f). Addiert man aber den Metallgeldanteil dieser Zahlen zu den Geldumlaufangaben, dann ergibt sich eine Unterschätzung des gesamten Geldumlaufs, da die Metallgeldbestände der Reichsbank am Jahresende wesentlich niedriger waren als deren Jahresdurchschnittswerte. Unter Berücksichtigung dieser Differenz sind die Abweichungen zwischen Hoffmann und anderen Versionen des Metallgeldumlaufs unwesentlich. Für 1913 z.B. liegt der (in Tabelle 3) noch verbleibende Abstand von 138 Millionen Mark durchaus im Rahmen der normalen Differenzen zwischen Jahresendzahlen und den Durchschnittswerten. Zusammenfassend kann behauptet werden: Für die gesamte Periode, 1870-1913, bringt die Hoffmannsche Langzeitreihe die einzigen, einheitlich geschätzten jährlichen Angaben zum Metallgeldumlauf; darüber hinaus ist ihre Qualität durchaus mit anderen Schätzungen vergleichbar“ (Tilly, a.a.O., S. 336).
„Unsere Gleichsetzung ‚Staat – Notenbanken’ und die Zusammenfassung der Reichsbasnk- und Privatbanknotenzirkulation mag zunächst fragwürdig erscheinen. Für diese Handhabung sprechen jedoch – abgesehen von der sicherlich nicht unwichtigen Tatsache, dass Hoffmann et al. sie so zusammenfasst – drei Argumente:
(a) Der Notenbanksektor war 1870-1913 von dem quantitativen Gewicht der Reichsbank bzw. (1870-1875) der Preußischen Bank stark dominiert.
(b) die Privatnotenbanken waren von ihrer Tradition und auch der gesetzlichen Regelung (seit 1876) her selbst quasi-staatliche Institutionen, deren Rolle sogar der Gesetzgeber in der ‚Überwachung des lokalen Geldverkehrs’ sah. Sie waren auf eigenen Wunsch oder gezwungenermaßen an einer stabilen Geschäftspolitik orientiert. Infolgedessen waren ihre Noten eher als „N“ (und nicht als „D“) zu betrachten.
(c) wie eben angedeutet, waren einige dieser Privatnotenbanken als quasi-staatliche Geldinstitutionen zu betrachten „(Tilly, a.a.O., S. 337f).
(4) Zur Taxonomie des Gegenstandes „Geld“
(Zitat aus: Tilly, R., 2003: Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 11-15).
„Zum Verständnis des im Folgenden verwendeten Geldbegriffes ist die Taxonomie von R. Richter nützlich (vgl. Richter, R., 1987: Geldtheorie. Berlin/Heidelberg, S. 103ff). Danach setzen Geldwirtschaften eine ‚elementare Währungsordnung’ voraus, die aus zwei Teilordnungen besteht:
I. Buchungsordnung, bestimmt 1. die Rechnungseinheit und 2. die Zahlungsmittel: Stückgeld (Münzen, Papiergeld), Buchgeld (Giralgeld), Kreditgeld;
II. Wertsicherungsordnung, bestimmt: 1. Preisziel, 2. Zahlungsmittelversorgung.
Die Buchungsordnung bestimmt die Rechnungseinheit (z.B. Taler, Mark) und die Art und Weise der Abwicklung des Zahlungsverkehrs während die Wertsicherungsordnung die Kaufkraft des Geldes sichern soll, z.B. durch Festsetzung der Menge des Edelmetalls, die einer Rechnungseinheit des Geldes entsprechen muss. Unter (1) wird also ‚abstraktes’ Geld – Geld in seiner Eigenschaft als Rechnungseinheit gemeint, unter (2) ‚konkretes’ Geld, d.h. Geld als Zahlungsmittel, erfasst. Die dritte Funktion des Geldes, die Wertaufbewahrung, wird durch die Wertsicherungsordnung und Zahlungsmittelversorgung in hohem Maße beeinflusst, aber nicht ‚bestimmt’ …
Zur Vervollständigung dieser Taxonomie sind einige kurze Erläuterungen zur Relation zwischen dem ‚Basisgeld’ und der Geldmenge einer Geldwirtschaft erforderlich. Zum Vergleichszweck wird auf die geldpolitische Taxonomie von Friedman/Schwartz zurückgegriffen. Dabei geht es um die drei Komponenten des Geldumlaufs: Metallgeld, Papiergeld und Bankeinlagen bzw. ‚Buchgeld’, ergänzt durch die Größe ‚Basisgeld’ (die Größe „H“, oder „high-powered money“).
Dabei handelt es sich um die Relation zwischen Zentralstelle der ‚Währungsordnung’ (die wir hier ‚Zentralnotenbank’ nennen können), den Geschäftsbanken und den restlichen Wirtschaftssubjekten bzw. den Nichtbanken. ‚Basisgeld’ ist das Bargeld des Systems und entspricht weitgehend dem ‚Stückgeld’. In moderneren Systemen besteht der Löwenanteil dieses Geldes aus Banknoten die von der Zentralbank ‚produziert’ werden. In diesen Systemen ist aber der gesamte Geldumlauf („Geldmenge“) hauptsächlich ‚Kreditgeld’, das vom Geschäftsbankensektor über einen Kreditschöpfungsprozess geschaffen wird. Und schließlich besteht die gesamte „Geldmenge“ aus der Menge des Stückgeldes plus der Einlagen der Nichtbanken bei den Geschäftsbanken. Diese drei ‚Akteure’ lassen sich durch Konten im ‚System’ einordnen. Zuerst die der Zentralnotenbank, gefolgt von Konten der Geschäftsbanken und der Nichtbanken.
(a) Aktiva der Staatsbehörde bzw. Zentralnotenbank:
- Gold/Silber und Devisen-Reserven
(a) Passiva der Staatsbehörde bzw. Zentralnotenbank:
- Münzen + Staatspapiergeld + Noten = Basisgeld (H)
- Kapital
(b) Aktiva der Geschäftsbanken (insgesamt):
- Münzen + Staatspapiergeld + Banknoten (= R)
- Darlehen (an Nichtbanken)
(b) Passiva der Geschäftsbanken (insgesamt):
- Einlagen von Nichtbanken (= D)
- Kapital
(c) Aktiva der Nichtbanken:
- Münzen + Staatspapiergeld + Banknoten (= C)
- Bankeinlagen (= D)
- Realvermögen
(c) Passiva der Nichtbanken:
- Bankdarlehen
- Kapital
Somit haben wir die folgenden Definitionen:
- Geldmenge = M = C + D;
- Basisgeld = H = R + C;
- Kreditgeld = Einlagen = D.
Zwei Eigenschaften dieses (idealtypischen) Systems sind von entscheidender Bedeutung. Erstens können Geschäftsbanken insgesamt dadurch Kreditgeld schaffen, dass sie (a) den größten Teil der bei ihnen als Einlagen angelegten Mittel der Nichtbanken wieder ausleihen, weil durchschnittlich nur ein geringer Teil von den Nichtbanken wieder abgezogen wird, und weil (b) der größte Teil der von ihnen ausgeliehenen Gelder über Ausgaben der Kreditempfänger ihnen als Bankeinlagen von Nichtbanken wieder zufließt. Dies gilt für den Geschäftsbankensektor insgesamt. Bei einem durchschnittlichen Bargeldreservesatz von 0,20 könnte beispielsweise eine (irgendwie entstandene) neue Einlage von Basisgeld von sagen wir 10 Mio. Mark über den Geldmultiplikator (= zusätzliches Basisgeld * (1/Reservesatz)) des Bankgeldschöpfungsprozesses zu einer Erhöhung der Geldmenge von 50 Mio. Mark führen. Zweitens sind Einlagen nicht wie Basisgeld gesetzliche Zahlungsmittel. Sie haben als Kreditgeld einen eingeschränkteren Geldcharakter bzw. geringere Liquidität als dieses. Sie stellen Forderungen der Nichtbanken gegenüber den Banken dar, die auf Verlangen von diesen in Basisgeld eingelöst werden müssen. Wirtschaftssubjekte haben in diesem System also mehr Vertrauen zum Basisgeld. Das hängt damit zusammen, dass Basisgeld in der Regel vom Staat produziert und garantiert wird, während Kreditgeld bzw. Bankeinlagen (D) natürlich von der Kreditwürdigkeit der Geschäftsbanken abhängen. Hier wird die Beziehung zwischen Geld und Kredit einerseits und Vertrauen andererseits relevant: Kredit und Kreditgeld setzen ein größeres Ausmaß an Vertrauen voraus als das Basisgeld“.
(5) Zur Rolle der Privatbankiers
Sinnvolle Schätzungen der Geldmenge für Deutschland sind nur unter Mitberücksichtigung der kurzfristigen Passiven der Privatbankiers denkbar (vgl. Tilly, a.a.O., S. 341). „Infolgedessen haben wir eine Schätzung der Gesamtaktiven der Privatbankiers von Goldsmith für die Jahre 1860, 1880, 1900 und 1913 als Grundlage zur Berechnung dieser Größe herangezogen. Wir sind von der für preußische Privatbankiers im Jahre 1865 geschätzten Relation zwischen Gesamtaktiven und Konto-Korrent Passiven ausgegangen und unterstellen, dass diese 1870 – 1913 konstant geblieben ist. Die dazwischen liegenden Jahre wurden auf Grund der Bewegung der Kreditoren der Kreditaktienbanken interpoliert: die jährlichen Änderungen der kurzfristigen Verbindlichkeiten der Kreditbanken als prozentuale Anteile des Trendwertes für eine gegebene Periode wird auf die Privatbankiers übertragen“.
(zur Schätzung siehe die ausführliche Ableitung in dem Aufsatz von Tilly in der beigefügten PDF-Datei).
(1) Geld- und Währungsordnung seit 1870 (Übersichten, Tabellen A.2 – A.4):
(Zitat aus: Tilly, R., 2003: Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 89 – 92).
„Die letzte Etappe der deutschen „Währungsunion" wurde eigentlich schon mit dem Krieg Preußens gegen Österreich eingeläutet. Als Folge schied Österreich aus der Münzunion aus, aber noch wichtiger, die Mitgliedsstaaten des 1867 gegründeten Norddeutschen Bundes traten ihre Souveränität in geld- und bankpolitischen Angelegenheiten an den Bund ab. Schon im März 1870 erließ man das „Banksperrgesetz", das dem Bund die Kontrolle über das Banknotenausgaberecht übertrug. Es folgte im Juni 1870 ein ähnliches Gesetz zur Regelung der Ausgabe von Staatspapiergeld. Mit dem Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund bzw. Deutschen Bund 1870 galten diese Gesetze - mit einigen Ausnahmen - auch für sie. Durch diese Verträge und anschließend auch durch die Reichsgründung erfolgten dann die Schritte, welche die „deutsche 'Währungsunion" vollendeten.
Bekanntlich vollzogen sich die währungs- und geldpolitischen Reformen der 1870er Jahre in drei zusammenhängenden Bereichen:
1. die Vereinheitlichung der deutschen Währung: an die Stelle von Taler- und Guldensystem trat die Mark, eingeteilt in 100 Pfennige, mit 1 Mark = 1/3 Taler = 0,44 Gulden;
2. der Übergang zum Goldstandard mit 1.395 Mark = 1 Pfund Feingold = 15,5 Pfund Feinsilber; und
3. die Regelung des Notenbankwesens zusammen mit der Gründung der Reichsbank.
Chronologisch war der erste entscheidende Schritt - abgesehen vom Abschluss des Krieges gegen Frankreich - die zunächst als Notmaßnahme gedachte Einstellung des Silberkaufes der preußischen Münzbehörde im Juli 1871. Damit war der Abschied vom Silberstandard angelaufen. Das erste Reichsgesetz zur neuen Währung war aber das Reichsmünzgesetz vom 4. Dezember 1871, das die Mark einführte, 10- und 20-Mark Goldmünzen autorisierte, die Ausmünzung von Silbermünzen durch die Bundesstaaten verbot und die Einziehung abgenutzter Silbermünzen auf Kosten des Reiches vorsah. Das Gesetz stellte einen großen Schritt in Richtung Goldstandard dar. Es wurde ergänzt durch ein weiteres Münzgesetz vom 9. Juli 1873, das die Herstellung von 5-Mark Goldmünzen, das freie Prägerecht von Goldmünzen auf Rechnung von Privaten, die Außerkurssetzung der Silbermünzen - mit Ausnahme der Silbertaler - und die Prägung von unterwertigen Silbermünzen durch das Reich autorisierte. Hiermit war der Goldstandard etabliert. Es ist freilich wichtig, diese währungspolitischen Schritte vor dem Hintergrund des Deutsch-Französischen Krieges zu sehen, denn sie wären finanz- und innenpolitisch ohne die Kriegsentschädigung von 5 Mrd. Goldfranken, die Frankreich an das Deutsche Reich entrichten musste, kaum durchführbar gewesen. Das mag selbstverständlich klingen, aber es soll keineswegs vergessen werden.
Das Münzgesetz vom 9. Juli 1873 berührte auch die Frage des Papiergeldes und des Notenbankwesens. Es setzte die kleinste zulässige Banknote auf 100 Mark und sah die Einlösung des Staatspapiergeldes bis 1876 vor. Die wichtigsten Veränderungen auf diesem Gebiet sind jedoch durch das Bankgesetz vom 14. März 1875 sanktioniert worden. Zwei miteinander zusammenhängende Sachverhalte sollten hiermit geregelt werden. Zum einen ging es um die Regelung des Notenbankwesens insgesamt. Zu dieser Zeit gab es noch 33 Notenbanken in Deutschland. Aus makroökonomischen Erwägungen war eine Kontrolle über das Volumen ihrer Notenemission, über die Deckung des Notenumlaufs durch Metallgeld, über die Stückelung ihrer Noten, u.v.m. wünschenswert. Dieses Gesetz, wie schon das o.e. Münzgesetz, sollte die Notenbanken motivieren, sich aus dem Notenbankgeschäftsbereich zurückzuziehen und war in dieser Hinsicht recht erfolgreich. Zum anderen regelte das Gesetz die Organisationsstruktur und Geschäftsweise der neuen Zentralnotenbank, der Reichsbank. Darauf wird später zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist das bemerkenswerteste Ergebnis der Bankgesetzgebung dieser Zeit der Sieg einer relativ „zentralen" Zentralnotenbank über den „Notenbankpartikularismus" der Bundesstaaten.
Geldumlauf und Geldpolitik:
Die eben geschilderten Gesetze und Vereinbarungen brachten eine relativ stabile, einheitliche deutsche Währung hervor. Sie erfüllten somit eine wichtige Voraussetzung eines modernen, nationalen Geldsystems. Sie sicherten allerdings nicht automatisch eine der Volkswirtschaft „adäquate" Geldversorgung, weder quantitativ noch qualitativ. Dafür waren weitere institutionelle Veränderungen erforderlich. Sie lassen sich mit den vier Hauptkomponenten des aggregierten Geldumlaufs verbinden: mit dem Metallgeld, Staatspapiergeld, den Banknoten und dem privaten „Bankgeld". Im Folgenden wird zunächst die quantitative Entwicklung des Geldumlaufs in Deutschland behandelt. Anschließend kommt die Frage nach der dahinter stehenden Geldpolitik zur Diskussion.
Schätzungen zur Entwicklung des Geldumlaufs in Deutschland im 19. Jahrhundert sind freilich mit erheblichen Unsicherheitsmomenten behaftet. Für die Zeit bis ca. 1875 sind vor allem die Daten zum quantitativ wichtigsten Bestandteil, zur Münzgeldzirkulation, problematisch, weil zuverlässige Bestandszahlen zu Anfang des Jahrhunderts fehlen und die statistische Erfassung der seitdem erfolgten Im- und Exporte von Münzen äußerst dürftig ist. Trotzdem lassen sich aus den verschiedenen früheren Versuchen einige Zahlen zum Metallgeldumlauf auch für diese frühere Zeit schätzen. In der untenstehenden Tabelle 5-1 werden sie zusammen mit den bekannteren Zahlen der späteren 1870-1913 Periode präsentiert.
Zur Relativierung der Metallgeldentwicklung enthält die Tabelle 5-1 auch Schätzungen (a) des Geldumlaufs insgesamt und (b) des von Banken gehaltenen Metallgeldes. Hier lässt sich natürlich das große Gewicht des Metallgeldes vor 1875 erkennen, aber auch noch zwei weitere Veränderungen werden sichtbar. Erstens ging der Anteil des Metallgeldes an dem gesamten Geldumlauf in Deutschland schon vor 1875 deutlich zurück. Zweitens wurde das verfügbare Metallgeld zunehmend von Banken als Reserven gehalten und nicht von privaten Haushalten oder Unternehmen. Ob das Metallgeldwachstum in dieser Zeit dem Bedarf der Wirtschaft entsprach hat demnach nicht nur mit der Geldnachfrage dieser Haushalte und Unternehmen zu tun, sondern auch mit dem Verhalten von Banken. Das sind wichtige Aspekte des monetären Strukturwandels, auf die weiter unten einzugehen sein wird.
Im geldtheoretischen Verständnis des 19. Jahrhunderts war nur Metallgeld „echtes Geld" (oder „Bargeld"), während Instrumente wie Staatspapiergeld, Banknoten oder Bankeinlagen eher als „Kreditgeld" oder „Geldsurrogate" angesehen wurden. Das hing freilich mit der Ausbreitung dieser Geldformen unter der Bevölkerung zusammen, die in Tabelle 5-2 gezeigt wird. Die Tabelle umfasst die Schätzungen der Entwicklung der drei genannten Geldformen und die schon in Tabelle 5-1 enthaltene Gesamtgeldmengeschätzung. Wie bereits vorhin angedeutet haben die deutschen Staaten (außer Österreich) im 19. Jahrhundert nur in relativ bescheidenem Ausmaß Papiergeldemissionen betrieben. Wesentlich bedeutsamer war die Ausgabe von Banknoten. Schon in den 1860er Jahren lagen sie vor dem Staatspapiergeld. Die dominierende Rolle der preußischen Banknoten tritt auch zu dieser Zeit klar hervor, entsprechend dem im vorigen Abschnitt besprochenen „Siegeszug" der preußischen Talerwährung in Deutschland. Vor dem Hintergrund der vorhin diskutierten „Finanzrevolution" ist gerade diese Bevorzugung der Banknoten interessant, denn sie stellt gewissermaßen die Delegierung der Steuerung des Geldumlaufs an Notenbanken dar, die mit Privatkapital arbeiteten und marktorientiert handeln mussten. Rein quantitativ ragt hier allerdings die Entwicklung der Bankeinlagen - auch als „Buchgeld" bezeichnet - hervor. Bereits 1865 war der Umlauf dieser Geldform wesentlich größer als der geschätzte Metallgeldbestand (vgl. Tabelle 5-1). Weil privatwirtschaftlich agierende Geschäftsbanken dieses Geld „produzierten", könnte man sagen, dass die Geldversorgung der deutschen Wirtschaft schon in dieser Zeit weitgehend ein „Marktergebnis" gewesen sein müsste.
(2) Konkrete Bestimmung der Geldformen und der ‚Besitzer-Kategorien’:
„Die Klassifikationsmöglichkeiten für das deutsche Geldsystem 1870 bis 1913 können zunächst wie folgt definiert werden:
1. Metallgeld (S): Gold- und Scheidemünzen;
2. Banknoten (N): Noten der Preußischen Bank (1870-75), der Reichsbank (1876-1913) und der sog. Privatnotenbanken, 1870-1913;
3. Staatspapiergeld (U): Deutsche Staaten, 1870-71, (1872-1913) Reichskassenscheine;
4. Staatsbuchgeld (F): Einlagen bei den Notenbanken bzw. (1876-1913) Giroguthaben bei der Reichsbank;
5. Bankeinlagen (D): Sicht- und Termineinlagen bei: Kreditaktienbanken, Privatbankiers, Hypothekenbanken, öffentlich - rechtliche Bodenkreditinstitutionen, Kreditgenossenschaften, Sparkassen.
Bei der Interpretation der ‚Besitzer’ - Kategorien sind folgende technische Punkte von Bedeutung:
(a) Numerische Eintragungen unter ‚Nichtbanken’ werden normalerweise als Rest errechnet: z.B. S(N) = S’ – (S(B)+S(S)), N(N) = N’-(N(B)+N(S)) etc. Zu dieser Kategorie werden auch die Bestände der Sparkassen, der staatlichen Institutionen und Unternehmungen etc. gezählt, sofern diese nicht ausdrücklich unter ‚Banken’ oder ‚Staat’ erfasst werden.
(b) Die Kategorie ‚Banken’ enthält einmal Kreditbanken und Privatbankiers, einmal die Gesamtheit.
(c) Der ‚Staat’ wird den Notenbanken bzw. der Reichsbank gleichgesetzt, mit einer Ausnahme, die in dem dritten Klassifikationsversuch (Tabelle 9) zugrunde gelegt wird.
Grundsätzlich ist zweierlei zu der Aufteilung zu bemerken:
- Die Definition des Staates, wonach die Kassenbestände und Bankguthaben der Reichsregierung, der Bundesstaaten sowie der staatlichen Anstalten und Unternehmungen verschiedener Art zu den ‚Nichtbanken’ gezählt werden, lässt sich unter besonderer Hervorhebung der Geldpolitik rechtfertigen. Man unterstellt dabei, dass nur die explizit mit einem geldpolitischen Auftrag versehenen Staatsorgane für eine Bewertung der geldwirtschaftlichen Steuerung von Belang sind (Friedman/Schwartz, a.a.O., S. 777).
- Die scharfe Trennung zwischen Reichsbank – Notenbanken einerseits und ‚Banken’ andererseits übersieht das Konkurrenzverhältnis zwischen Reichsbank und den Geschäftsbanken – eins der zentralen Themen der Bankenenquete von 1908/09 – und wertet wahrscheinlich dabei die Privatnotenbanken als geldpolitischen Faktor übermäßig auf. Beide Nachteile können m.E. in Kauf genommen werden, zum ersten, weil die Reichsbank ohne Zweifel in erster Linie als geldpolitisches Instrument zu verstehen und zum zweiten aus arbeitstechnischen Gründen: vermengte jährliche Reichsbank- und Privatnotenbankstatistiken liegen nun schon einmal vor“ (Tilly, a.a.O., S. 334).
(3) Kommentar zu den Versionen I – III (Tabelle C.1, C.2, C.4):
„Unsere Aufgabe ist die Erstellung von Langzeitreihen der Variablen „C“, „R“ und „D“, d.h. jährliche Angaben für diese Variablen müssen aus den vorhandenen und noch zu schätzenden jährlichen Daten für S(N), S(B), S(N) etc. abgeleitet werden. Aus empirischen sowie analytischen Gründen müssen dabei vereinfachende Annahmen gemacht und von den Dutzenden von möglichen Schätzungswegen eine Auswahl getroffen werden. Wir präsentieren hier zwei Hauptversionen mit einigen kleineren Variationen“ (Tilly, a.a.O., S. 331f).
M(1) ist eine von Richard Tilly kalkulierte Geldmenge mit der engeren Definition von Bargeld + Kontokorrentverbindlichkeiten der Kreditaktienbanken und den Privatbanken.
M(2) beruht auf einer breiter gefassten Definition der Geldmenge, die zusätzlich die Einlagen der Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Hypothekenbanken und der öffentlich-rechtlichen Bodenkreditinstitute mitberücksichtigt. Eine Geldmengendefinition ist nicht besser oder schlechter als eine andere, sondern sie muss nach ihrer Relevanz zu den theoretischen und empirischen Fragen beurteilt werden.
Die Tabellen 5 (C.1) und 6 (C.2) und (ergänzend) 9 (C.4) fassen die Ergebnisse der Schätzungen zusammen: M(1), Geldmenge im engeren Sinne und M(2), Geldmenge im weiteren Sinne (d.h. unter Mitberücksichtigung der Sparkassen, Kreditgenossenschaften etc.) sowie ergänzend M(3) aus der Version III:
- C.1: Die Tabelle 5 enthält eine Zeitreihe, die ‚Bankgeld’ (oder „D“) den Konto-Korrentverbindlichkeiten der Kreditaktienbanken und den Privatbankiers gleichsetzt. Das bedeutet, dass die Einklagen der Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Hypothekenbanken und der öffentlich-rechtlichen Bodenkreditinstituten ausgeschlossen werden, ferner dass diese Institutionen überhaupt als Teil des „Nichtbanken-Sektors“ behandelt werden. Infolgedessen werden ihre Bestände an Bar- und Bankgeld zu den Beständen der Nichtbanken gezählt (als Teil von „C“ und „D“).
- C.2: In Tabelle 6 wird die Definition des Bankgeldes („D“) um gerade diese Einlagen ausgeweitet, die Bar- und Bankgeldbestände der Nichtbanken entsprechend vermindert, die der Banken vergrößert.
- C.4 (Tabelle 9): „In einem dritten Klassifikationsversuch wurde (a) die Notenzirkulation und die Einlagen der Privatnotenbank von denen der Preußischen (1871 und 1873) bzw. der Reichsbank getrennt und als Anlagen des Privatbanksektors „D(N)“ behandelt; und (b) bei den Giroguthaben bei der Reichsbank zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Konten differenziert. Das Ergebnis wird hier als Tabelle 9, Version III, wiedergegeben“ (Tilly, a.a.O., S 344).
Der allgemeine Schluss, der aus diesen Daten gezogen werden kann, ist ein dreifacher:
(1) Version III reflektiert größere Konjunkturschwankungen, was auf den doch stärkeren erwerbswirtschaftlichen Charakter der Privatnotenbanken hinzuweisen scheint.
(2) Die Abweichungen zwischen I und III bei den jährlichen Änderungsrichtungen reflektieren nicht nur eine unterschiedliche Geschäftsweise der Reichsbank und Privatnotenbanken, sondern Lags, da die quantitativen Abweichungen nicht groß sind und bei der Bildung von Zweijahresdurchschnitten fast völlig verschwinden.
(3) Trendmäßig 1870-1913 ist kaum ein Unterschied zwischen I und III zu erkennen, was als Argument für die dominierende Rolle des Metallgeldes insbesondere des Goldes bei der Entwicklung des Geldsystems in dieser Periode interpretiert werden könnte“ (Tilly, a.a.O., S. 361ff).
(4) Kommentar zu den Schätzungen von W.G. Hoffmann (siehe die Tabellen in der Untergliederung B.)
„Die Tabelle 3 zeigt …, dass die Geldumlaufstatistiken bei Hoffmann et al. eben Schätzungen sind (was insofern problematisch bleibt, als dort die Schätzmethode nicht hinreichend erläutert wird). Ein Grund der Diskrepanz scheint jedoch in der Hoffmannschen Verwendung von Jahresabschlussziffern zu liegen. Seine Geldumlaufstatistiken ab 1876 enthalten nämlich nicht die Metallgeldbestände der Notenbanken; diese befinden sich in einem anderen Teil des Buches unter dem Sammelbegriff ‚Kasse’ und sind Jahresendwerte (vgl. Hoffmann et al., S. 751f, S. 814f). Addiert man aber den Metallgeldanteil dieser Zahlen zu den Geldumlaufangaben, dann ergibt sich eine Unterschätzung des gesamten Geldumlaufs, da die Metallgeldbestände der Reichsbank am Jahresende wesentlich niedriger waren als deren Jahresdurchschnittswerte. Unter Berücksichtigung dieser Differenz sind die Abweichungen zwischen Hoffmann und anderen Versionen des Metallgeldumlaufs unwesentlich. Für 1913 z.B. liegt der (in Tabelle 3) noch verbleibende Abstand von 138 Millionen Mark durchaus im Rahmen der normalen Differenzen zwischen Jahresendzahlen und den Durchschnittswerten. Zusammenfassend kann behauptet werden: Für die gesamte Periode, 1870-1913, bringt die Hoffmannsche Langzeitreihe die einzigen, einheitlich geschätzten jährlichen Angaben zum Metallgeldumlauf; darüber hinaus ist ihre Qualität durchaus mit anderen Schätzungen vergleichbar“ (Tilly, a.a.O., S. 336).
„Unsere Gleichsetzung ‚Staat – Notenbanken’ und die Zusammenfassung der Reichsbasnk- und Privatbanknotenzirkulation mag zunächst fragwürdig erscheinen. Für diese Handhabung sprechen jedoch – abgesehen von der sicherlich nicht unwichtigen Tatsache, dass Hoffmann et al. sie so zusammenfasst – drei Argumente:
(a) Der Notenbanksektor war 1870-1913 von dem quantitativen Gewicht der Reichsbank bzw. (1870-1875) der Preußischen Bank stark dominiert.
(b) die Privatnotenbanken waren von ihrer Tradition und auch der gesetzlichen Regelung (seit 1876) her selbst quasi-staatliche Institutionen, deren Rolle sogar der Gesetzgeber in der ‚Überwachung des lokalen Geldverkehrs’ sah. Sie waren auf eigenen Wunsch oder gezwungenermaßen an einer stabilen Geschäftspolitik orientiert. Infolgedessen waren ihre Noten eher als „N“ (und nicht als „D“) zu betrachten.
(c) wie eben angedeutet, waren einige dieser Privatnotenbanken als quasi-staatliche Geldinstitutionen zu betrachten „(Tilly, a.a.O., S. 337f).
(4) Zur Taxonomie des Gegenstandes „Geld“
(Zitat aus: Tilly, R., 2003: Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 11-15).
„Zum Verständnis des im Folgenden verwendeten Geldbegriffes ist die Taxonomie von R. Richter nützlich (vgl. Richter, R., 1987: Geldtheorie. Berlin/Heidelberg, S. 103ff). Danach setzen Geldwirtschaften eine ‚elementare Währungsordnung’ voraus, die aus zwei Teilordnungen besteht:
I. Buchungsordnung, bestimmt 1. die Rechnungseinheit und 2. die Zahlungsmittel: Stückgeld (Münzen, Papiergeld), Buchgeld (Giralgeld), Kreditgeld;
II. Wertsicherungsordnung, bestimmt: 1. Preisziel, 2. Zahlungsmittelversorgung.
Die Buchungsordnung bestimmt die Rechnungseinheit (z.B. Taler, Mark) und die Art und Weise der Abwicklung des Zahlungsverkehrs während die Wertsicherungsordnung die Kaufkraft des Geldes sichern soll, z.B. durch Festsetzung der Menge des Edelmetalls, die einer Rechnungseinheit des Geldes entsprechen muss. Unter (1) wird also ‚abstraktes’ Geld – Geld in seiner Eigenschaft als Rechnungseinheit gemeint, unter (2) ‚konkretes’ Geld, d.h. Geld als Zahlungsmittel, erfasst. Die dritte Funktion des Geldes, die Wertaufbewahrung, wird durch die Wertsicherungsordnung und Zahlungsmittelversorgung in hohem Maße beeinflusst, aber nicht ‚bestimmt’ …
Zur Vervollständigung dieser Taxonomie sind einige kurze Erläuterungen zur Relation zwischen dem ‚Basisgeld’ und der Geldmenge einer Geldwirtschaft erforderlich. Zum Vergleichszweck wird auf die geldpolitische Taxonomie von Friedman/Schwartz zurückgegriffen. Dabei geht es um die drei Komponenten des Geldumlaufs: Metallgeld, Papiergeld und Bankeinlagen bzw. ‚Buchgeld’, ergänzt durch die Größe ‚Basisgeld’ (die Größe „H“, oder „high-powered money“).
Dabei handelt es sich um die Relation zwischen Zentralstelle der ‚Währungsordnung’ (die wir hier ‚Zentralnotenbank’ nennen können), den Geschäftsbanken und den restlichen Wirtschaftssubjekten bzw. den Nichtbanken. ‚Basisgeld’ ist das Bargeld des Systems und entspricht weitgehend dem ‚Stückgeld’. In moderneren Systemen besteht der Löwenanteil dieses Geldes aus Banknoten die von der Zentralbank ‚produziert’ werden. In diesen Systemen ist aber der gesamte Geldumlauf („Geldmenge“) hauptsächlich ‚Kreditgeld’, das vom Geschäftsbankensektor über einen Kreditschöpfungsprozess geschaffen wird. Und schließlich besteht die gesamte „Geldmenge“ aus der Menge des Stückgeldes plus der Einlagen der Nichtbanken bei den Geschäftsbanken. Diese drei ‚Akteure’ lassen sich durch Konten im ‚System’ einordnen. Zuerst die der Zentralnotenbank, gefolgt von Konten der Geschäftsbanken und der Nichtbanken.
(a) Aktiva der Staatsbehörde bzw. Zentralnotenbank:
- Gold/Silber und Devisen-Reserven
(a) Passiva der Staatsbehörde bzw. Zentralnotenbank:
- Münzen + Staatspapiergeld + Noten = Basisgeld (H)
- Kapital
(b) Aktiva der Geschäftsbanken (insgesamt):
- Münzen + Staatspapiergeld + Banknoten (= R)
- Darlehen (an Nichtbanken)
(b) Passiva der Geschäftsbanken (insgesamt):
- Einlagen von Nichtbanken (= D)
- Kapital
(c) Aktiva der Nichtbanken:
- Münzen + Staatspapiergeld + Banknoten (= C)
- Bankeinlagen (= D)
- Realvermögen
(c) Passiva der Nichtbanken:
- Bankdarlehen
- Kapital
Somit haben wir die folgenden Definitionen:
- Geldmenge = M = C + D;
- Basisgeld = H = R + C;
- Kreditgeld = Einlagen = D.
Zwei Eigenschaften dieses (idealtypischen) Systems sind von entscheidender Bedeutung. Erstens können Geschäftsbanken insgesamt dadurch Kreditgeld schaffen, dass sie (a) den größten Teil der bei ihnen als Einlagen angelegten Mittel der Nichtbanken wieder ausleihen, weil durchschnittlich nur ein geringer Teil von den Nichtbanken wieder abgezogen wird, und weil (b) der größte Teil der von ihnen ausgeliehenen Gelder über Ausgaben der Kreditempfänger ihnen als Bankeinlagen von Nichtbanken wieder zufließt. Dies gilt für den Geschäftsbankensektor insgesamt. Bei einem durchschnittlichen Bargeldreservesatz von 0,20 könnte beispielsweise eine (irgendwie entstandene) neue Einlage von Basisgeld von sagen wir 10 Mio. Mark über den Geldmultiplikator (= zusätzliches Basisgeld * (1/Reservesatz)) des Bankgeldschöpfungsprozesses zu einer Erhöhung der Geldmenge von 50 Mio. Mark führen. Zweitens sind Einlagen nicht wie Basisgeld gesetzliche Zahlungsmittel. Sie haben als Kreditgeld einen eingeschränkteren Geldcharakter bzw. geringere Liquidität als dieses. Sie stellen Forderungen der Nichtbanken gegenüber den Banken dar, die auf Verlangen von diesen in Basisgeld eingelöst werden müssen. Wirtschaftssubjekte haben in diesem System also mehr Vertrauen zum Basisgeld. Das hängt damit zusammen, dass Basisgeld in der Regel vom Staat produziert und garantiert wird, während Kreditgeld bzw. Bankeinlagen (D) natürlich von der Kreditwürdigkeit der Geschäftsbanken abhängen. Hier wird die Beziehung zwischen Geld und Kredit einerseits und Vertrauen andererseits relevant: Kredit und Kreditgeld setzen ein größeres Ausmaß an Vertrauen voraus als das Basisgeld“.
(5) Zur Rolle der Privatbankiers
Sinnvolle Schätzungen der Geldmenge für Deutschland sind nur unter Mitberücksichtigung der kurzfristigen Passiven der Privatbankiers denkbar (vgl. Tilly, a.a.O., S. 341). „Infolgedessen haben wir eine Schätzung der Gesamtaktiven der Privatbankiers von Goldsmith für die Jahre 1860, 1880, 1900 und 1913 als Grundlage zur Berechnung dieser Größe herangezogen. Wir sind von der für preußische Privatbankiers im Jahre 1865 geschätzten Relation zwischen Gesamtaktiven und Konto-Korrent Passiven ausgegangen und unterstellen, dass diese 1870 – 1913 konstant geblieben ist. Die dazwischen liegenden Jahre wurden auf Grund der Bewegung der Kreditoren der Kreditaktienbanken interpoliert: die jährlichen Änderungen der kurzfristigen Verbindlichkeiten der Kreditbanken als prozentuale Anteile des Trendwertes für eine gegebene Periode wird auf die Privatbankiers übertragen“.
Mehr
Sachliche Untergliederung der Datentabellen:
A. Übersichten
A.1 Entwicklung der Verbraucherpreise im Deutschen Reich (1871-1913)
A.2 Metallgeld- und Geldumlauf in Deutschland (1815-1913)
A.3 Staatspapiergeld, Banknoten und Bankeinlagen in Deutschland (1835-1913)
A.4 Geldmengenentwicklung im Deutschen Reich (1875-1913)
B. Geschätzte Langzeitreihen zum Geldumlauf nach W.G. Hoffmann
B.1 Schätzungen zum Metallgeldumlauf in Deutschland (1876-1913)
B.2 Notenumlauf der Preußischen bzw. Reichsbank als Prozent des Gesamtbanknotenumlaufs in Deutschland (1871-1913)
B.3 Der Geldumlauf (1850-1913)
B.4 Notenumlauf, Wertpapiere und Kasse (1851-1913)
C. Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland nach Richard H. Tilly
C.1 Zeitreihen der Geldmenge, Version I (1870-1913)
C.2 Zeitreihen der Geldmenge, Version II (1870-1913)
C.3 Änderungsraten der Geldmenge und anderer Variablen (1870-1913)
C.4 Taxonomie der Geldmenge, Version III (1870-1913)
C.5 Zusammenfassung: Geldmenge, Preise und Volkseinkommen in Deutschland (1870-1913)
D. Anhang (nach Richard H. Tilly)
D.1 Komponenten der Geldmenge, Version I (1870-1913)
A. Übersichten
A.1 Entwicklung der Verbraucherpreise im Deutschen Reich (1871-1913)
A.2 Metallgeld- und Geldumlauf in Deutschland (1815-1913)
A.3 Staatspapiergeld, Banknoten und Bankeinlagen in Deutschland (1835-1913)
A.4 Geldmengenentwicklung im Deutschen Reich (1875-1913)
B. Geschätzte Langzeitreihen zum Geldumlauf nach W.G. Hoffmann
B.1 Schätzungen zum Metallgeldumlauf in Deutschland (1876-1913)
B.2 Notenumlauf der Preußischen bzw. Reichsbank als Prozent des Gesamtbanknotenumlaufs in Deutschland (1871-1913)
B.3 Der Geldumlauf (1850-1913)
B.4 Notenumlauf, Wertpapiere und Kasse (1851-1913)
C. Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland nach Richard H. Tilly
C.1 Zeitreihen der Geldmenge, Version I (1870-1913)
C.2 Zeitreihen der Geldmenge, Version II (1870-1913)
C.3 Änderungsraten der Geldmenge und anderer Variablen (1870-1913)
C.4 Taxonomie der Geldmenge, Version III (1870-1913)
C.5 Zusammenfassung: Geldmenge, Preise und Volkseinkommen in Deutschland (1870-1913)
D. Anhang (nach Richard H. Tilly)
D.1 Komponenten der Geldmenge, Version I (1870-1913)
Bearbeitungshinweise
Datum der Archivierung: April 2006
Jahr der Online-Publikation: 1973
Bearbeiter in GESIS: Alexander Todorov/Jürgen Sensch
Version:Version 1.0.0
Zugangsklasse: A
Jahr der Online-Publikation: 1973
Bearbeiter in GESIS: Alexander Todorov/Jürgen Sensch
Version:Version 1.0.0
Zugangsklasse: A
Materialien zur Studie
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